Das Gesetz (nÒmoj) bei Paulus
 
 
1. Bedeutungen des Begriffs nÒmoj
2. Der nÒmoj als Forderung Gottes
3. Das Gesetz unter der Sünde
4. Die Bedeutung des Gesetzes für Paulus
5. Das Gesetz Christi
6. Christus als tšloj nÒmou
7. Das Gesetz (Schrift) als Zeugnis der Glaubensgerechtigkeit
8. Der biografische Hintergrund der paulinischen Aussagen über das Gesetz



 
1. Bedeutungen des Begriffs nÒmoj

Der paulinische Gesetzesbegriff ist deshalb sehr schwer zu ermitteln, weil Paulus den Begriff nÒmoj in sehr verschiedenen Bedeutungen und in verschiedenen Kontexten verwendet. Dabei ist zu unterscheiden:

Das Zentrum der paulinischen Reflexionen bildet der Gesetzesbegriff, der den nÒmoj als den fordernden Gotteswillen versteht. Dabei denkt Paulus an das in der Tora überlieferte konkrete Gebot Gottes, nicht aber an ein Phänomen wie "Gesetzlichkeit".
 
 
2. Der nÒmoj als Forderung Gottes

Der nÒmoj im Sinne der Gesamtheit der Gebote ist die Forderung Gottes an die Menschen, aufgezeichnet in der Tora. Diese Forderung geht grundsätzlich an alle Menschen. Zwar ist nur Israel die Tora übergeben worden (Röm.9,4) und damit Gottes Forderung explizit bekannt gemacht worden, aber auch den Heiden ist das Gesetz ins Herz geschrieben (Röm.2,15). Zwar kennen sie nicht die Tora, doch zeigt doch ihr gesetzesgemäßes Verhalten und ihr Gewissen (Röm.2,14f), dass auch sie Gottes Forderung kennen (Paulus greift hier nicht auf eine theologia naturalis oder die hellenistische Vorstellung eines dem Kosmos eingestifteten Sittengesetzes zurück, sondern argumentiert "rein pragmatisch" [Roloff, 158]. Er will zeigen, dass alle unter der Anklage Gottes zurecht schuldig sind. Evt. stehen stoische Gedanken im Hintergrund).
Das Halten des Gesetzes führt zum Leben, die Übertretung zur Verurteilung (Röm.2,12f; Gal.3,10+12). Paulus hält also fest an der jüdischen Vorstellung vom eschatologischen Gericht nach den Werken. Das Gesetz könnte so zum Heilsweg für die Menschen werden, da es durch die Gebote den Menschen zeigt, wie sie Leben müssen, um das Heil zu erlangen (so das Judentum). Doch behauptet Paulus, dass das Heil nicht ™x œrgwn nÒmou erlangt werden kann. Wie kann er zu diesem Schluss kommen? Dies ist nur verständlich, wo deutlich ist, was Paulus mit ¡mart…a meint. Deshalb muss dies hier zunächst geklärt werden.
 
 
3. Das Gesetz unter der Sünde

Paulus verwendet den Begriff ¡mart…a, außer in den Stücken, in denen er Tradition aufgreift (1.Kor.15,3; Gal.1,4) stets im Singular. Dabei versteht Paulus unter ¡mart…a nicht vorwiegend (wie die jüdische Tradition) die einzelne Tatsünde, also der einzelne konkrete Verstoß gegen ein Gebot, sondern sieht die Sünde als eine kosmische Macht, unter die der Mensch versklavt ist (z.B. Röm.6,16ff) und die die Menschen zum Verstoß gegen die Gebote zwingt. Die einzelnen Tatsünden sind damit Wirkungen der Sündenmacht.
In apokalyptischer Tradition stehend sieht Paulus den Ursprung der Sündenmacht in der Tat Adams. Durch seine Verfehlung kam die Sündenmacht in die Welt und hält seitdem die Menschen unter ihrer Herrschaft (Röm.5,12). Mit der Sünde kommt ferner der Tod als Folge der Sünde in die Welt (Röm.5,12). Dennoch ist die Herrschaft der Sünde keine Entschuldigung für die Menschen. Jeder vollzieht die Verfehlung Adams aufs Neue und bestätigt damit die Herrschaft der Sünde (Röm.5,12; vgl. syr.Bar.54,15+19). Eine einzelne Tatsünde bleibt also Schuld.
Mit der Vorstellung von der Sündenmacht scheint Paulus gnostische Traditionen aufzunehmen, die von einer Todesverhängnis und einer Gefangenschaft der menschl. Seele in der Welt sprechen. Aber im Unterschied zur Gnosis hält Paulus daran fest, dass Tatsünden zu verantwortende Verstöße gegen Gebote sind. Paulus kennt damit eine Dialektik zw. Sünde als über den Menschen herrschende und ihn zum Sündigen zwingende Macht und Sünde als vom Menschen selbst zu verantwortende Tat.

Eine paulinische Grunderkenntnis ist die Einsicht in das Zusammenwirken von ¡mart…a und nÒmoj (als Forderung Gottes). Dieses vollzieht sich auf verschiedene Weise:

4. Die Bedeutung des Gesetzes für Paulus

Damit kann das Gesetz nicht zum Heil führen. Es erhält aber für Paulus eine andere Bedeutung:

5. Das Gesetz Christi

Durch Christi Tod und Auferstehung wird die Macht der ¡mart…a gebrochen (vgl. Die paulinische Christologie und Soteriologie). Damit kann auch das Gesetz (zumindest im Röm.) wieder positive Funktionen erhalten. Diese lässt sich in der These zusammenfassen: Das Gesetz im Sinne der Tora ist durch das Gesetz Christi aufgehoben; aufgehoben in doppeltem Sinn (dialektische Aufhebung):

6. Christus als tšloj nÒmou

Auf diesem Hintergrund der dialektischen Aufhebung des Gesetzes durch Christus und sein Gesetz lässt sich nun auch entscheiden, wie die Aussage, Christus sei das tšloj nÒmou (Röm.10,4) zu interpretieren ist:

7. Das Gesetz (Schrift) als Zeugnis der Glaubensgerechtigkeit

Für Paulus zeugt das AT selbst dafür, dass die Gerechtigkeit nicht aufgrund des Gesetzesgehorsams, sondern allein aufgrund des Glaubens erreicht werden kann. Dies macht er an folgenden Zitaten deutlich:

8. Der biografische Hintergrund der paulinischen Aussagen über das Gesetz

Paulus entstammt einer überlieferungstreuen diasporajüdischen Familie, wurde als pharisäischer Schriftgelehrter ausgebildet und strebte nach einer vollkommenen Erfüllung des Gesetzes (vgl. Die Biographie des Paulus). Er sah sich selbst als "nach der im Gesetz beschlossenen Gerechtigkeit untadelig" (Phil.3,6).
Schon seine ersten Berührungen mit der christlichen Gemeinde dürften im Zeichen der Gesetzesproblematik gestanden haben. Er beteiligte sich (nach Act.8,3) an der Verfolgung der Hellenisten um Stephanus, also jener Gruppe der Gemeinde, die Jesu Gesetzes- und Tempelkritik aufgenommen und weitergeführt hatten. Vielleicht wurde in diesem Zshg. von jüdischer Seite die Aussage "Verflucht ist, wer am Holze hängt" (Dtn.21,23) auf Jesus angewandt, um den Anspruch der Messianität Jesu vom Gesetz her abzuwenden.
Die Berufung des Paulus vor Damaskus bedeutete für ihn die radikale Umwertung aller Werte: "Seinetwegen [Christus] habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat" (Phil.3,8f). An die Stelle des Gesetzes als Heilsweg tritt für Paulus nun der Glaube an den verfluchten Christus als Heilsweg. "Die biographische Wendung, die wir die 'Bekehrung' des Paulus zu nennen pflegen, korrespondiert in seinem Verständnis also jener heilsgeschichtlichen Wende, die er in Röm.10,4 als das Ende des Gesetzes bezeichnet" (Roloff, 154f; nach U.Wilckens). Zugleich verstand Paulus seine Bekehrung als Berufung zum Apostel für die "gesetzesfreie" Heidenmission.
Die Gesetzesproblematik begleitete Paulus weiter: Auf dem Apostelkonzil und den ihm folgenden Kämpfen mühte er sich um eine Anerkennung der gesetzesfreien Heidenmission. In der Auseinandersetzung mit den galatischen Gemeinden, die in einen judaistischen Nomismus zurückzufallen drohten, und in der Vorbereitung seines Rom-Besuches formuliert er dann seine Gesetzes-Theologie.
 


Literatur: J.Roloff, Neues Testament, S.153-164; Ed.Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, S.92-95;



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