Das Gesetz (nÒmoj) bei
Paulus
 
 
 
| 1. Bedeutungen des Begriffs nÒmoj |  | 
Der paulinische Gesetzesbegriff ist deshalb sehr schwer zu ermitteln,
weil Paulus den Begriff nÒmoj in sehr
verschiedenen Bedeutungen und in verschiedenen Kontexten verwendet. Dabei
ist zu unterscheiden:
- 
Der allgemeine (griechische) nÒmoj-Begriff:
Der nÒmoj ist für die Griechen "ein
Abstraktum, nämlich die im Kosmos waltende ordnende Macht, deren Existenz
dem Menschen durch das sinnvolle Gefüge des Seienden gewiß wird
und deren Anerkennung die Voraussetzung sinnvollen menschlichen Daseins
ist" (Roloff, 155). Teilt Paulus auch nicht die ontologischen Voraussetzungen
des griech. nÒmoj-Begriffes, so kann er
das Wort nÒmoj durchaus in der Bedeutung
"formales Prinzip" verstehen (z.B. Röm.7,21).
- 
Der biblisch-jüdische
nÒmoj-Begriff
ist in sich noch vielgestaltig. Zu unterscheiden ist (wie bereits beim
hebräischen tora):
- 
nÒmoj als graf»:
Wie bereits im Judentum können die heiligen Schriften von ihrem Zentrum,
der Tora, her als ganzes mit dem Begriff Tora bezeichnet werden. So kann
z.B. ein Jesaja-Zitat mit "im Gesetz geschrieben steht" eingeleitet werden
(1.Kor.14,21). Dann kann aber auch innerh. der atl. Schriften zwischen
nÒmoj
kaˆ prof»tai differenziert werden (z.B.
Röm.3,21), bzw. der Pentateuch als "Gesetz des Mose" bezeichnet werden
(1.Kor.9,9).
- 
nÒmoj als ™ntol»
(Gebot): Das Gesetz wird als der fordernde Wille Gottes verstanden, der
sich in den atl. Geboten äußert. Dabei kann noch einmal zwischen
den rituellen und den restlichen Geboten differenziert werden (1.Kor.7,19;
Röm.2,25). Paulus verwendet dabei den Begriff nÒmoj
stets im Singular, spricht aber immer pluralisch von den Geboten.
Darin steht er in jüdischer Tradition, die in den "Einzelgeboten immer
die Ausprägung der Tora in ihrer Gesamtheit" (Roloff, 155) sieht.
Das Zentrum der paulinischen Reflexionen bildet der Gesetzesbegriff,
der den nÒmoj als den fordernden Gotteswillen
versteht. Dabei denkt Paulus an das in der Tora überlieferte konkrete
Gebot Gottes, nicht aber an ein Phänomen wie "Gesetzlichkeit".
 
 
| 2. Der nÒmoj
als Forderung Gottes |  | 
Der nÒmoj im Sinne der Gesamtheit der
Gebote ist die Forderung Gottes an die Menschen, aufgezeichnet in der Tora.
Diese Forderung geht grundsätzlich an alle Menschen. Zwar ist
nur Israel die Tora übergeben worden (Röm.9,4) und damit Gottes
Forderung explizit bekannt gemacht worden, aber auch den Heiden ist
das Gesetz ins Herz geschrieben (Röm.2,15). Zwar kennen sie nicht
die Tora, doch zeigt doch ihr gesetzesgemäßes Verhalten und
ihr Gewissen (Röm.2,14f), dass auch sie Gottes Forderung kennen (Paulus
greift hier nicht auf eine theologia naturalis oder die hellenistische
Vorstellung eines dem Kosmos eingestifteten Sittengesetzes zurück,
sondern argumentiert "rein pragmatisch" [Roloff, 158]. Er will zeigen,
dass alle unter der Anklage Gottes zurecht schuldig sind. Evt. stehen stoische
Gedanken im Hintergrund).
Das Halten des Gesetzes führt zum Leben, die Übertretung
zur Verurteilung (Röm.2,12f; Gal.3,10+12). Paulus hält also fest
an der jüdischen Vorstellung vom eschatologischen Gericht nach
den Werken. Das Gesetz könnte so zum Heilsweg für die Menschen
werden, da es durch die Gebote den Menschen zeigt, wie sie Leben müssen,
um das Heil zu erlangen (so das Judentum). Doch behauptet Paulus, dass
das Heil nicht ™x œrgwn nÒmou erlangt
werden kann. Wie kann er zu diesem Schluss kommen? Dies ist nur verständlich,
wo deutlich ist, was Paulus mit ¡mart…a
meint. Deshalb muss dies hier zunächst geklärt werden.
 
 
| 3. Das Gesetz unter der Sünde |  | 
Paulus verwendet den Begriff ¡mart…a,
außer in den Stücken, in denen er Tradition aufgreift (1.Kor.15,3;
Gal.1,4) stets im Singular. Dabei versteht Paulus unter ¡mart…a
nicht vorwiegend (wie die jüdische Tradition) die einzelne Tatsünde,
also der einzelne konkrete Verstoß gegen ein Gebot, sondern sieht
die Sünde als eine kosmische Macht, unter die der Mensch versklavt
ist (z.B. Röm.6,16ff) und die die Menschen zum Verstoß gegen
die Gebote zwingt. Die einzelnen Tatsünden sind damit Wirkungen der
Sündenmacht.
In apokalyptischer Tradition stehend sieht Paulus den Ursprung der
Sündenmacht in der Tat Adams. Durch seine Verfehlung kam die Sündenmacht
in die Welt und hält seitdem die Menschen unter ihrer Herrschaft (Röm.5,12).
Mit der Sünde kommt ferner der Tod als Folge der Sünde in die
Welt (Röm.5,12). Dennoch ist die Herrschaft der Sünde keine
Entschuldigung für die Menschen. Jeder vollzieht die Verfehlung
Adams aufs Neue und bestätigt damit die Herrschaft der Sünde
(Röm.5,12; vgl. syr.Bar.54,15+19). Eine einzelne Tatsünde bleibt
also Schuld.
Mit der Vorstellung von der Sündenmacht scheint Paulus gnostische
Traditionen aufzunehmen, die von einer Todesverhängnis und einer Gefangenschaft
der menschl. Seele in der Welt sprechen. Aber im Unterschied zur Gnosis
hält Paulus daran fest, dass Tatsünden zu verantwortende Verstöße
gegen Gebote sind. Paulus kennt damit eine Dialektik zw. Sünde
als über den Menschen herrschende und ihn zum Sündigen zwingende
Macht und Sünde als vom Menschen selbst zu verantwortende Tat.
Eine paulinische Grunderkenntnis ist die Einsicht in das Zusammenwirken
von ¡mart…a und nÒmoj
(als Forderung Gottes). Dieses vollzieht sich auf verschiedene Weise:
- 
Zwar kommt der Tod durch die Sünde in die Welt (Röm.5,12), doch
wird die Sünde erst aufgrund des Gesetzes angerechnet (Röm.
5,13). Weil aber erst das Gesetz zur Verurteilung führt, kann Paulus
sagen, ohne das Gesetz gebe es keine Übertretungen (Röm. 4,15;
5,13). Auch eine Spitzenaussage wie ¹ dÚnamij
tÁj ¡mart…aj Ð nÒmoj (1.Kor.15,56) ist erst
verstehbar auf dem Hintergrund, dass erst durch das Gesetz Sünde zur
Verurteilung führt. Erst durch das Gesetz wird die lebensfeindliche
Macht der Sünde voll offenbar.
- 
Die Menschen sind immer schon von der Sünde beherrscht, wenn sie dem
Gesetz begegnen. Dadurch kann die Sünde das Gebot geradezu als Aufstachelung
zum Sündigen verwenden: "Ich hätte ja von der Begierde nichts
gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren.
Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in
mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot" (Röm.7,7f).
So spricht Paulus auch davon, dass die Sünde den Menschen täuschte,
indem sie ihn zum Sündigen aufstachelt (Röm.7,11). Damit bewirkt
das Gesetz, das zum Leben führen sollte den Tod (Röm.7,10).
- 
Weil der Mensch unter der Macht der Sünde steht und so immer wieder
sündigt, was durch die Begegnung mit dem Gebot noch verstärkt
wird, bewirkt das Gesetz, das denen, die es halten zwar Leben verheißt,
denen aber die es übertreten den Tod ankündigt, faktisch nur
den Tod, da alle das Gesetz übertreten. Dies nachzuweisen ist
Ziel des Abschnitts Röm.1,18-3,20. Grundsätzlich wird also an
der jüdischen Vorstellung festgehalten, dass die Täter des Gesetzes
Heil erfahren. Nur lautet die paulin. Grundthese, dass niemand das Gesetz
erfüllen kann, weil alle unter der Macht der Sünde stehen (Röm.3,9). 
 Das Gesetz ist nicht deshalb unerfüllbar, weil es unmöglich wäre
alle 613 Bestimmungen der Tora zu erfüllen. Paulus selbst bezeichnet
sich doch als "untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt"
(Phil.3,9). Und die kasuistische Gesetzesinterpretation macht ja gerade
das Gesetz erfüllbar, allerdings zieht sie auch eine Grenze für
den Anspruch des Gesetzes und damit den Anspruch Gottes (Roloff, 158).
Diesem Anspruch Gottes jedoch uneingeschränkt Raum zu geben, ist wegen
der Herrschaft der Sünde nicht möglich.
- 
R.Bultmann u.a. bestreitet die prinzipielle Möglichkeit, durch das
Gesetz zum Heil zu erlangen. Denn wo Menschen versuchen, das Gesetz durch
eigene Leistung zu erlangen, erkennen sie nicht, dass das Heil Geschenkcharakter
hat. "Nicht erst die bösen Werke, die Übertretungen des Gesetzes,
sind es, die den Juden vor Gott verwerflich machen, sondern schon die
Absicht, durch Gesetzeserfüllung vor Gott gerecht zu werden, ist Sünde"
(R.Bultmann, Exegetica, 200). Mit dieser Interpretation gibt es im Gesetz
keinen positiven Gehalt mehr, implizit wird das Gesetz damit mit der Sünde
indentifiziert. Es gibt zwar bei Paulus den Gedanken, dass das Gesetz (in
seiner jüdischen Auslegung) die Tendenz hat, zum Streben nach „d…an
dikaiosÚnh zu führen (Röm.9,31; 10,2f; Phil.3,9),
doch wird diese Tendenz nicht mit dem Gesetz identifiziert. Wenn Paulus
das Tun des Gesetzes selbst schon als verwerflich ansehen würde, wäre
nicht verständlich, warum er sich bemüht zu beweisen, dass alle
das Gesetz gebrochen haben und an der Vorstellung vom Gericht nach den
Werken festhält.
- 
Das Gesetz hat damit nicht die Kraft, lebendig zu machen (Gal.3,21).
| 4. Die Bedeutung des Gesetzes für
Paulus |  | 
Damit kann das Gesetz nicht zum Heil führen. Es erhält aber
für Paulus eine andere Bedeutung:
- 
Im Gal. wird es geradezu zur Macht, die den Menschen bedrängt,
und von der er erst durch Christus befreit wird. Weil diese lebensfeindliche
Macht nicht von Gott kommen kann, wird die Göttlichkeit des Gesetzes
dezimiert:
- 
Das Gesetz kam erst 430 Jahre nach der Verheißung an Abraham, es
ist also zeitlich sekundär (Gal.3,17).
- 
Es wurde (nur) durch Engel erlassen und durch einen Mittler bekannt gemacht.
Das Gesetz wird damit nicht unmittelbar auf Gott zurückgeführt
(Gal.3,19f), sondern von Gott distanziert.
- 
Es wird in seiner Wirkung zeitlich befristet, seit dem Kommen Christi ist
es abgetan (Gal.3,24f).
Umstritten ist, wie innerhalb dieser Argumentation die Wendung Ð
nÒmoj paidagwgÕj ¹mîn gšgonen e„j CristÒn
(Gal.3,24f) zu verstehen ist. Folgende Möglichkeiten bieten sich an:
- 
Das Gesetz hält die Menschheit in Zaum, so dass die Auswirkungen der
Sünde nicht zur Vernichtung der Welt führen (So könnte evt.
das "um unserer Übertretungen willen" von Gal.3,19 interpretiert werden).
- 
Mit paidagwgÒj ist der Sklavenaufseher
gemeint, der bis zum Kommen Christi (e„j=bis)
über die Menschen herrscht. Dies ist nur ein Bild für die lebensfeindliche
Macht der Sünde (passt gut zur Grundtendenz von Gal.)
- 
Das Gesetz als paidagwgÒj (=Lehrer) erzieht
uns auf Christus hin, damit wir dann erkennen, dass aus dem Gesetz kein
Heil kommen kann, sondern nur aus dem Glauben (passt gut zum unmittelbaren
Kontext und zu Röm.3,20).
- 
Weitaus positiver wird das Gesetz dann im Röm. gesehen, obwohl
die Grundthese, dass das Gesetz nicht zum Heil führt, nicht aufgegeben
wird. Folgende Aussagen sind hier zu beachten:
- 
Das Gesetz soll die Sünde "voll" machen, damit die Gnade umso deutlicher
werde (Röm.5,20). Das Gesetz wird also zur negativen Folie
für die Gnade. Vielleicht könnte auch so das "um unserer Übertretungen
willen" (Gal.3,19) zu interpretieren sein.
- 
Das Gesetz hat jetzt ganz explizit die Funktion, zur Erkenntnis der
Sünde zu führen (Röm.3,20). Dabei wird durchaus mit
der doppelten Bedeutung von nÒmoj gespielt.
Denn sowohl das Gebot, das immer zur Erfahrung der Übertretung führt,
als auch die Schrift, führen zur Erkenntnis der Sünde. Auch die
Erkenntnis hat einen doppelten Inhalt: Zunächst wird die allgemeine
Schuldhaftigkeit aller deutlich (3,19), dann aber wird grund sätzlicher
erkannt, dass alle unter der Herrschaft der ¡mart…a
sind (Röm.3,9).
- 
Das Gesetz ist trotz seiner lebensfeindlichen Auswirkungen "heilig, gerecht
und gut" (Röm.7,12), weil es das Gesetz Gottes ist. Es ist ferner
pneumatikÒj (Röm.7,14). Diese Aussage
kann Paulus machen, weil er nun ausdrücklich zwischen nÒmoj
und ¡mart…a differenziert (Röm.7,7ff).
Wie das Gesetz zur Erkenntnis der (Verstrickung in die Macht der) Sünde
und damit zur Apologie des Gesetzes führt, zeigt Röm.7,7-25.
Die Interpretation dieser Stelle war lange umstritten. Es gibt folgende
Möglichkeiten:
- 
gläubig oder vorgläubig? Luther und Augustin interpretierten
die Stelle als Ausdruck der Kämpfe des gläubigen Menschen, der
verstrickt ist in den Widerspruch zw. Wollen und Vollbringen. Dagegen spricht
jedoch der Kontext bei Paulus: Zw. Röm.7 und Röm.8 findet der
Umschlag von der vorgläubigen zur gläubigen Existenz statt. Paulus
hält ein grundsätzliches Versklavtsein unter die Sünde für
die Christen nicht mehr für gegeben.
- 
biografisch oder generell? Der Pietismus verstand Röm.7,8ff
als autobiographischer Niederschlag der erfahrenen Bekehrung des Paulus.
Doch hiergegen spricht Röm.7,9 (Paulus kann unmöglich sagen,
dass er eine Zeitlang ohne Gesetz gelebt hätte; Röm.7 widerspricht
Phil.3,5f und Gal.1,13f wo Paulus sich als gesetzesstolzen Pharisäer
betrachtet; das "Ich" kann auch typisch gebraucht werden - vgl. 1.Kor.13,1-3).
Seit der Arbeit von W.G.Kümmel (Römer 7 und die Bekehrung des
Paulus, 1929) wird Röm.7,7ff deswegen durchweg generell verstanden.
Dennoch konnte G.Theißen zeigen (Psychologische Aspekte paulinischer
Theologie, 1983), dass auch biographische Erfahrungen hier verarbeitet
sind, obwohl transsubjektiv gesprochen wird (vgl. hierzu Die
Biographie des Paulus). Das transsubjektive Ich von Röm.7,7ff
sieht sich in der Rolle Adams. Aufgrund des ergehenden Gebotes merkt es,
dass es unter der Herrschaft der Sünde lebt. Dabei wird festgehalten,
dass das Gesetz gut und von Gott ist, dass aber der Mensch, weil unter
die Sünde versklavt, dem Gesetz nicht folgen kann: "Das Wollen ist
in mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen" (Röm.7,18).
Damit wird der Weg in die Erkenntnis der Versklavung unter die Sündenmacht
vorgeführt.
Hier besteht ein Unterschied zw. dem paulin. Verständnis und der
lutherischen Rechtfertigungslehre. "Das paulinische 'Schon' und 'Noch-Nicht'
werden hier [bei Luther] zu einem Nebeneinander eingeebnet" (Roloff, 164).
Der Christ ist immer simul peccator ac iustus. Paulus dagegen betont die
bereits geschehene Überwindung der Sündenmacht. Ferner lässt
sich in Röm.7,7-25 auch nicht der secundus usus legis belegen,
also die anklagende Funktion des Gesetzes, die den Menschen immer wieder
zur Heilsbotschaft des Evangeliums treibt. Röm.7 ist eben nicht (wie
Luther es tut) als Beschreibung des Christen zu lesen.
Durch Christi Tod und Auferstehung wird die Macht der ¡mart…a
gebrochen (vgl. Die paulinische Christologie und
Soteriologie). Damit kann auch das Gesetz (zumindest im Röm.)
wieder positive Funktionen erhalten. Diese lässt sich in der These
zusammenfassen: Das Gesetz im Sinne der Tora ist durch das Gesetz Christi
aufgehoben; aufgehoben in doppeltem Sinn (dialektische Aufhebung):
- 
Das Gesetz der Tora
- 
gilt nicht mehr für die Christen: "Das Gesetz des Geistes des Lebens
[=das Gesetz Christi] hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sündenmacht
und des Todes" (Röm.8,2). Christus hat uns freigekauft vom Gesetz
(Gal.3,13f; 4,5).
- 
v.a. in seinen kultischen Bestimmungen, hat keine Bedeutung mehr für
die Christen (z.B. Gal.5,6).
- 
Beendet ist dabei das Gesetz als Heilsweg. Dieser Heilsweg ist dadurch
gekennzeichnet, dass eine menschliche Tat als Erfüllung der göttlichen
Forderung dem Empfang des Heils vorausgeht. Die grundlegende Erkenntnis
des Paulus ist dabei: Hierbei kommt es nie zu einer Erfüllung des
Gesetzes.
Aufhebung des Gesetzes ist hier also Ungültig-Erklärung. Dies
steht v.a. im Gal. im Vordergrund.- 
Der eigentliche Sinn aber des Gesetzes, wird durch das Gesetz Christi (Gal.6,2)
erst aufgedeckt. Das Gesetz Christi ist "das von Christus in seinem ursprünglichen
Sinn freigelegte Gesetz" (Roloff, 163). Insofern ist auch die Tora im Gesetz
Christi aufgehoben. Es kommt damit zu einer Neuinterpretation der
Tora. Das Gesetz Christi umfasst zentral:
- 
Das Liebesgebot. Das Gesetz wird geradezu mit dem Liebesgebot identifiziert:
"Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt" (Röm.13,8+10;
vgl. Gal.5,13). Damit nimmt Paulus ganz explizit jüdische und jesuanische
Tradition auf, die bereits das Liebes gebot als Zentrum der Tora ansah.
Das Liebesgebot kann auch mit dem anderen Gebot "du sollst nicht begehren"
(Röm.7,7; 13,8-10) in Verbindung gebracht werden. Die Tora, verstanden
als Liebesgebot, wird also beibehalten. Das Gesetz Christi, zusammengefasst
im Liebes gebot, ist nun der Ausgangspunkt der paulinischen Paränesen.
Diese verwenden oft Tora-Gebote (z.B. Röm.13,9), bedienen sich aber
nie pharisäischer Kasuistik. "Der jeweils konkrete Inhalt der Forderung
wird durch den Blick auf den Nächsten und seine Situation deutlich"
(Roloff, 163). Der Nächste mit seiner Last steht im Zentrum (Gal.6,2).
- 
Ferner ist der Glauben die Erfüllung des Gesetzes Christi,
denn wenn Paulus einerseits am Gericht nach den Werken festhält (Röm.2,12ff),
andererseits behauptet, dass der Mensch aufgrund des Glaubens, nicht aufgrund
der Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird (z.B. Röm.3,28), so kann
das nur bedeuten, dass der Glaube und die mit ihm verbundene Liebe das
vom Gesetz gefor derte Werk ist. Der Glaube ist also "der Sinn des Gesetzes"
(K.Barth, Römerbrief, S.92). Dies lässt sich an folgenden Beobachtungen
belegen:
- 
So heißt es Röm.9,31, dass Israel, das nach dem Gesetz der Gerechtigkeit
strebte, dies nicht erfüllt habe. Warum nicht? Weil es nicht nach
Glaubensgerechtigkeit, sondern nach Gerechtigkeit aus den Werken strebte.
Hätte es aber nach Glaubensgerechtigkeit gestrebt - so ist zu folgern
- hätte es das Gesetz durchaus erfüllt.
- 
Paulus verwendet zum Beleg der Behauptung, dass die Gerechtigkeit aus Glauben
kommt, das Beispiel Abraham (Röm.4; Gal.3,6ff), eine Zentralgestalt
der Tora. Dabei leitet er seinen Schriftbeweis in Röm.3,31 durch den
Satz ein: "Setzen wir nun durch den Glauben das Gesetz außer Kraft?
Im Gegenteil! Wir richten das Gesetz auf." Wenn bereits das Gesetz
die Glaubensgerechtigkeit fordert, so kommt das Gesetz in eine Zeugenfunktion
für die Glaubensgerechtigkeit. Dies äußert sich darin,
dass Paulus zahlreiche Schriftbelege für seine These von der Glaubensgerechtigkeit
anführen kann (s.u.). Diese im Gericht anzurechnende Erfüllung
des Gesetzes durch den Glauben ist möglich, weil Glauben und Liebe
untrennbar miteinan der verbunden sind (Röm.6; vgl. unten).
- 
Dabei darf der Glaube nicht als Werk missverstanden werden (vgl. dazu Der
Glaube (p…stij) bei Paulus). Es gibt also
kein Rühmen (kauc©sqai) aufgrund
der Erfüllung des nÒmoj p…stewj (Röm.3,27).
- 
Das Verständnis des Gesetzes Christi impliziert einen neuen Heilsweg.
Hier wird das Heil durch Christus geschenkweise gegeben, im Glauben wird
es angenommen und dadurch in die Sphäre des Geistes eingetreten, worin
das Leben nach dem Gesetz Christi selbstverständlich ist. Der Empfang
des Heils geht der Gesetzeserfüllung voraus. Nur so kann das Gesetz
erfüllt werden. Wo allerdings der Glaube keine Früchte trägt,
ist dies ein Anzeichen dafür, dass es gar nicht wirklich zum Glauben
gekommen ist (Röm.6,1ff).
- 
Dadurch, dass die Macht der ¡mart…a gebrochen
ist und die Christen das göttliche pneàma
empfangen, können die mit Christus verbundenen nun auch
das Gesetz, als das Gesetz Christi, erfüllen. Durch Christi Tod
und Auferstehung ist es möglich, Dass "die Rechtsforderung des Gesetzes
erfüllt wird in uns" (Röm.8,4). Deshalb haben die an Christus
Glaubenden auch nicht mehr die Verurteilung zu befürchten (Röm.8,1).
Durch Christus kommt es also zu einer "endzeitlichen Erneuerung der Anfangssituation"
(Roloff, 162), was durch die Adam-ChristusTypologie Röm.5,12-21 deutlich
gemacht wird. Wie bei Adam ist nun das Heil vorgegeben, die Gesetzeserfüllung
sekundär.
| 6. Christus als tšloj
nÒmou |  | 
Auf diesem Hintergrund der dialektischen Aufhebung des Gesetzes durch
Christus und sein Gesetz lässt sich nun auch entscheiden, wie die
Aussage, Christus sei das tšloj nÒmou
(Röm.10,4) zu interpretieren ist:
- 
Christus ist das Ende des Gesetzes (tšloj=Ende),
insofern er das Ende der „d…an dikaiosÚnh,
der Gesetzeserfüllung als Heilsweg, ist. Diese Interpretation
legt sich aus dem Kontext nahe (Röm.10,3). Folgende Missverständnisse
sind abzuwehren:
- 
Den tšloj zu verstehen als rein zeitliches Ende,
Christi Kommen als der Anbruch des messianischen Äons, in dem nach
apokalyptischer Tradition das Gesetz keine Bedeutung mehr hat (A. Schweizer,
die Mystik des Apostels Paulus), ist eine zu einseitige Verengung der paulinischen
Theologie auf die Apokalyptik.
- 
Bultmann interpretiert den tšloj als das Ende
des Heilsweges, aus dem Gesetz  „d…an dikaiosÚnh
zu erlangen, wie er im Gesetz selbst begründet ist. Der Weg des Gesetzes
hat nach Bultmann von seinem Ansatz her den Menschen in das Scheitern und
in den Tod führen müssen, denn die ganze Richtung ist eben falsch
(Theologie, S.260-69). Dies hat bei Bultmann die Implikation, dass das
ganze AT lediglich als Geschichte des Scheiterns verstanden werden kann.
Jedoch ist festzuhalten, dass Paulus an der Rechtfertigung aufgrund der
Werke des Gesetzes festhält (s.o.). Das Verhältnis zum Gesetz
ist bei Paulus nicht nur unter der Perspektive der Außer-Kraft-Setzung
anzusehen.
- 
Christus ist das Ziel des Gesetzes (tšloj=Ziel),
insofern erst durch ihn die (Glaubens-)Gerechtigkeit, die das Gesetz nicht
erreichen konnte, verwirklicht werden kann (Dies lässt auch der Kontext
zu, vgl. 9,32). Ferner ist er das Ziel des Gesetzes, weil durch seinen
Sieg über die Sündenmacht es möglich geworden ist,
das Gesetz zu erfüllen (Röm.8,4). Hier muss jedoch daran festgehalten
werden, dass die Tora durch das Gesetz Christi ersetzt worden ist. Die
Tora ist also vom Gesetz Christi her zu interpretieren.
| 7. Das Gesetz (Schrift) als Zeugnis
der Glaubensgerechtigkeit |  | 
Für Paulus zeugt das AT selbst dafür, dass die Gerechtigkeit
nicht aufgrund des Gesetzesgehorsams, sondern allein aufgrund des Glaubens
erreicht werden kann. Dies macht er an folgenden Zitaten deutlich:
- 
Röm.1,17 und Gal.3,11 zitiert er Hab.2,4: Ð
d…kaioj ™k p…stewj z»setai. Dabei wird ™k
p…stewj zu Ð d…kaioj gezogen, so dass
es heißt: "Der aus Glauben Gerechte wird leben". Hab. dagegen ist
so zu verstehen: "Der Gerechte wird aus Glauben (bzw. aufgrund seiner Treue)
leben".
- 
Röm.4 und Gal.3,6-18 wird Abraham als der Prototyp des Menschen,
der Gerechtigkeit aufgrund seines Glaubens erlangte, dargestellt (In
Röm.4 als Schriftbeweis zu der These Röm.3,21). Dabei ist eine
polemische Uminterpretation des Abrahambildes im Judentum gegeben:
Dort galt Abraham als der Inbegriff verdienstlicher Tugend (1.Makk.2,52).
In der Argumentation steht Gen.15,6 im Zentrum: "Er glaubte Gott, und das
wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet". Ferner wird begründet, dass
die Christen, die durch den Glauben gerecht werden, die wirklichen Kinder
Abrahams sind, denn für sie gilt:
- 
sie sind aufgrund der Verheißung (die in Christus erfüllt worden
ist) und nicht aufgrund des Gesetzes Nachkommen Abrahams (Gal.3,15-18).
- 
Die Beschneidung war nicht Voraussetzung, sondern Besiegelung der Verheißung.
Deshalb ist sie auch für die Christen nicht mehr geboten (Röm.4,9ff)
- 
Die Verheißung gilt den Völkern (Gal.3,8; Röm.4,17f ->
Gen.17,5), also sind auch die heidnischen Christen darin eingeschlossen.
- 
In diesem Zusammenhang wird auch David als Zeuge für die Glaubensgerechtigkeit
in Anspruch genommen (Röm.4,7f -> Ps.32,1f - Analogieschluss mit Gen.15,6/Röm.4,3
über log…zesqai).
- 
Auch die beiden Frauen Abrahams und ihre beiden Söhne werden durch
eine allegorische Auslegung von Gen.16f als Zeugen für den Empfang
der Gerechtigkeit aufgrund des Glaubens und der Verheißung erwiesen
(Gal.4,22-31).
- 
Ferner wird Röm.3,21 einfach pauschal behauptet, dass die Schrift
für die Glaubensgerechtigkeit zeuge, ohne dass allerdings konkrete
Stellenangaben angegeben werden.
| 8. Der biografische Hintergrund
der paulinischen Aussagen über das Gesetz |  | 
Paulus entstammt einer überlieferungstreuen diasporajüdischen
Familie, wurde als pharisäischer Schriftgelehrter ausgebildet und
strebte nach einer vollkommenen Erfüllung des Gesetzes (vgl. Die
Biographie des Paulus). Er sah sich selbst als "nach der im Gesetz
beschlossenen Gerechtigkeit untadelig" (Phil.3,6).
Schon seine ersten Berührungen mit der christlichen Gemeinde dürften
im Zeichen der Gesetzesproblematik gestanden haben. Er beteiligte sich
(nach Act.8,3) an der Verfolgung der Hellenisten um Stephanus, also jener
Gruppe der Gemeinde, die Jesu Gesetzes- und Tempelkritik aufgenommen und
weitergeführt hatten. Vielleicht wurde in diesem Zshg. von jüdischer
Seite die Aussage "Verflucht ist, wer am Holze hängt" (Dtn.21,23)
auf Jesus angewandt, um den Anspruch der Messianität Jesu vom Gesetz
her abzuwenden.
Die Berufung des Paulus vor Damaskus bedeutete für ihn die radikale
Umwertung aller Werte: "Seinetwegen [Christus] habe ich alles aufgegeben
und halte es für Unrat" (Phil.3,8f). An die Stelle des Gesetzes
als Heilsweg tritt für Paulus nun der Glaube an den verfluchten Christus
als Heilsweg. "Die biographische Wendung, die wir die 'Bekehrung' des
Paulus zu nennen pflegen, korrespondiert in seinem Verständnis also
jener heilsgeschichtlichen Wende, die er in Röm.10,4 als das Ende
des Gesetzes bezeichnet" (Roloff, 154f; nach U.Wilckens). Zugleich verstand
Paulus seine Bekehrung als Berufung zum Apostel für die "gesetzesfreie"
Heidenmission.
Die Gesetzesproblematik begleitete Paulus weiter: Auf dem
Apostelkonzil und den ihm folgenden Kämpfen mühte er sich
um eine Anerkennung der gesetzesfreien Heidenmission. In der Auseinandersetzung
mit den galatischen Gemeinden, die in einen judaistischen Nomismus zurückzufallen
drohten, und in der Vorbereitung seines Rom-Besuches formuliert er dann
seine Gesetzes-Theologie.
 
Literatur: J.Roloff, Neues Testament,
S.153-164; Ed.Lohse, Grundriß der neutestamentlichen
Theologie, S.92-95;
Copyright: Matthias Kreplin, 2000

