Der Umgang des Paulus mit dem Alten Testament
 
 
 
| 1. Hypothesen zum Geschichtsverständnis
des Paulus |  | 
Die Diskussion über den paulinischen Umgang mit dem AT ist verquickt
mit der Frage nach dem Geschichtsverständnis des Paulus, denn
das AT berichtet von Gottes Handeln in der Geschichte des Volkes Israel.
Je nachdem, wie das Verhältnis zwischen Gottes im AT berichteten Handeln
und der Erlösungstat Jesu Christi verstanden wird, muss sich auch
der Umgang mit dem AT ändern. Folgende Grundmodelle für das paulinische
Geschichtsverständnis wurden entworfen:
- 
R.Bultmann: Paulus teile nicht die Voraussetzungen des atl. Geschichtsdenkens.
Er denke primär in den geschichtslosen Kategorien der hellenistischen
Mysterien und der Gnosis, die existential zu interpretieren seien.
Paulus interessiere nicht die Geschichte, sondern lediglich das Individuum.
Röm.9-11 ist ein missglückter Versuch ohne Bedeutung für
die paulin. Theologie. 
 Kritik: Die Bedeutung von Röm.9-11 wird nicht wahrgenommen; Paulus
sucht im AT nicht nur Elemente eines mit dem christlichen identischen Daseinsverständnisses.
Das Stichwort Verheißung kann bei Bultmann nur so aufgenommen werden,
dass sie im AT enttäuscht wird, in Christus aber erfüllt ist.
Dies entspricht aber nicht der AT-Exegese des Paulus (vgl. 1.Kor.10,1ff).
- 
U.Wilckens sieht Paulus "entscheidend durch den heilsgeschichtlichen Gesamtentwurf
der jüdischen Apokalyptik bestimmt" (Rechtfertigung als Freiheit,
1974, S.23). Das Kommen Christi sei der Anbruch eines neuen Äons,
das AT nach Gottes Weltenplan die Zeit der Erwartung auf diesen Äon,
die auf den neuen Äon hinführe. 
 Kritik: Paulus teilt zwar gewisse Grundelemente mit apokalyptischer Tradition,
dennoch ist in der apokalyptischen Tradition kaum Platz für die Spannung
zwischen "Schon" (Versöhnung mit Gott, Geistausgießung, etc.)
und "Noch-Nicht" (Ausstehende Parusie). Das Heil auf Hoffnung hin durchbricht
apokalyptisches Denken. Apokalyptische Aussagen begegnen bei Paulus v.a.
in futurischen Aussagen (1.Th.5,1f; 4,16f; 1.Kor.15,20-28).
- 
O.Cullmann versucht, bei Paulus ein konsequent heilsgeschichtliches
Verständnis nachzuweisen. Paulus sehe im AT ein Gefüge von
Heilstaten Gottes, die in einem kausal verknüpften, linearen Zusammenhang
stehen und sich im NT linear fortsetzen. In der Geschichtsschau des Glaubens
erschließe sich dieser Zusammenhang und gewinne Konturen eines übergreifenden
göttlichen Heilsplanes. Dieser Plan ist durch Erwählung und Verwerfung
gekennzeich net: Die atl. Heilsgeschichte schreite in immer neuen Akten
der Erwählung, denen Akte der Verwerfung korrespondieren, so voran,
dass der Kreis der Erwählten immer kleiner werde, und sich schließlich
auf Jesus verenge. Dann gäbe es über die Jünger und das
neue Gottesvolk wieder eine Ausweitung hin auf die erneuerte Menschheit. 
 Kritik: Die einzelnen Bezugnahmen auf die atl. Geschichte bleiben bei Paulus
punktuell und werden gerade nicht zu einem System verbunden.
| 2. Der exegetische Umgang des Paulus
mit dem AT |  | 
Der exegetische Umgang des Paulus mit dem AT ist durch folgende Momente
gekennzeichnet:
- 
Paulus teilt die exegetische Methodik des Judentums. Viele Elemente
jüdischer Auslegungsmethodik finden sich bei ihm (vgl. dazu Allgemeines
zu den paulinischen Briefen):
- 
Paulus teilt die hermeneutische Voraussetzung des Urchristentums, dass
die Schrift durch Christus erfüllt sei und dass sich der eigentliche
Sinn der Schrift erst von Christus her erschließe (2.Kor.3,14ff).
Dennoch sieht er nicht wie z.B. Matthäus (Reflexionszitate) die Erfüllung
in der Verwirklichung atl. Stellen im Leben Jesu. "Bei Paulus fehlt der
Weissagungsbeweis fast völlig! Seine zentrale hermeneutische Kategorie
ist nicht die Weissagung, sondern die Verheißung" (Roloff,
150).
- 
Der Begriff der Verheißung (™paggel…a)
wird von Paulus verwandt, um die innere Struktur des Alten Testaments
zu Kennzeichen, wie sie sich im Licht der Christusoffenbarung erschließt.
Die Schrift ist demnach nicht durch das Gesetz, sondern durch die Verheißung
bestimmt. Verheißungen sind dabei für Paulus nicht nur explizite
Verheißungstexte. Auch alles berichtete Heilshandeln Gottes im AT
ist Verheißung, es weist auf das alles bisherige übertreffende
Heilshandeln voraus, das mit dem Messias sich einstellen wird. "Es geht
bei den Verheißungen um Heilsgaben (nicht um Ereignisse)" (Roloff,
171). Paulus denkt dabei z.B. an Leben (Gal.3,21; Röm.4,17), Gerechtigkeit
(Gal.3,21), den Geist (Gal.3,14), die Sohnschaft (Gal.4,22f; Röm.9,8f).
Diese Verheißungen werden eingelöst durch Gottes endzeitliches
Handeln in Christus, das strukturanalog zu seinem früheren
Handeln in der Geschichte ist.
- 
Diese Grundeinstellung zeigt sich am deutlichsten in der von Paulus recht
häufig verwandten Auslegungsmethodik, der Typologie. "Das Wort
tÚpoj bedeutet wörtlich die prägende
Hohlform, etwa die Prägung eines Siegels, die abgedrückt wird
und so ein Gegenbild erzeugt. Für Paulus wird das Wort zum hermeneutischen
Terminus für eine bestimmte Art der Deutung der atl. Geschichte. Die
Typologie setzt atl. Personen, Einrichtungen und Vorgänge in eine
sachliche Entsprechung zu Aspekten des Christusgeschehens, wobei die letzteren
vollendende, bestätigende, überbietende oder auch aufhebende
Funktion haben können" (Roloff, 171). Ansätze zu typologischer
Auslegung finden sich bereits im AT (neuer König, neuer Exodus etc.),
doch begegnet der Begriff nicht. Die wichtigsten Merkmale der Typologie
sind:
- 
Nicht Texte werden gedeutet, sondern die hinter den Texten stehenden
geschichtlichen Vorgänge bzw. Personen (so deutet Röm.4,9-24
nicht Gen.15,6, sondern die Geschichte Abrahams).
- 
Typen der vergangenen Geschichte werden Vorgänge bzw. Personen des
Endzeitgeschehens als Antitypen gegenübergestellt.
- 
Typ und Antityp sind formal durch eine Entsprechung miteinander
verbunden, die eine Steigerung einschließt (Röm.5,18f;
1.Kor. 10,6-9). Die Entsprechung kann positiv sein (Überbietung; z.B.
Röm.4,24), sie kann aber auch eine Aufhebung bedeuten (Röm.5,18).
- 
Was Typ und Antityp zusammenhält ist eine Kontinuität im Handeln
Gottes.
- 
Die Typen der vergangenen Geschichte bleiben punktuell, sie werden nicht
als Stationen einer durchgehenden Heilsgeschichte verstanden.
- 
Die Typologie kann auch in prophetische Zukunftsschau übergehen (Röm.11,25-36).
Wichtige Textbeispiele:
Literatur: J.Roloff, Neues Testament,
S.167-180.
Copyright: Matthias Kreplin, 2000

