Literarkritische Hypothesen zum Johannes-Evangelium
 
 
1. Brüche und Spannungen
2. Erklärung durch Unordnung
3. Erklärung durch Verarbeitung mehrerer Quellen
3.1. Grundevangelium mit späterer Redaktion
3.2. Komposition aus verschiedenen schriftlich fixierten Quellen 
3.3. Komposition aus schriftlichen Quellen und spätere Redaktion



 
1. Brüche und Spannungen

Ist die Makrostruktur des JohEv. relativ übersichtlich (vgl. Zur Komposition des Johannes-Evangeliums), so ergeben sich doch in der Mikrostruktur einige Brüche und Spannungen:

Zur Erklärung dieser Brüche gibt es grundsätzlich zwei literarkritische Möglichkeiten:
 
2. Erklärung durch Unordnung

Unordnungen in Handschriften des Altertums sind mehrfach belegt. Solche Unordnungen können drei Ursachen haben:

Nachdem R.Bultmann in seinem Kommentar die Unordnungshypothese relativ extensiv zu Umstellungen benutzte, reduziert sich die Diskussion in der Folge auf eine vorgeschlagene Umstellung: Einige Forscher (z.B. J.Becker) nehmen an, dass folgende Reihenfolge ursprünglich war: 4,1-54; 6,1-71; 5,1-47; 7,15-24; 7,1ff. Dafür gibt es folgende Argumente: Gegenargumente:
3. Erklärung durch Verarbeitung mehrerer Quellen

Einige Forscher behaupten (v.a. aufgrund von Stilanalysen mit statistischen Mitteln) die literarische Einheitlichkeit des Joh. Doch zeigte sich, dass diese Stilanalysen methodisch gesehen in ihrer Aussagekraft sehr problematisch sind und dass die Vertreter der Einheitlichkeitshypothese schwer die Unstimmigkeiten und Brüche erklären konnten. Deshalb wurden vor allem literarkritische Schichten-Modelle entwickelt. Dabei haben sich drei Grundtypen herausgebildet:
 
 
3.1. Grundevangelium mit späterer Redaktion

Wellhausen entwickelte die Hypothese, dass der Evangelist ein Grundevangelium verfasste, das z.T in erheblichem Maße überarbeitet wurde.

Kritik: Das Grundevangelium muss (soll es wirklich ein Evangelium gewesen sein) zumindest aus Wundergeschichten (SQ s.u.) und Passionsgeschichte bestanden haben. Diese beiden Einheiten sind allerdings literarisch und theologisch sehr verschieden, so dass nicht davon auszugehen ist, dass sie in ihrer Grundform von einem Verfasser stammen.
Die Unterschiede zwischen beiden Traditionskomplexen:

3.2. Komposition aus verschiedenen schriftlich fixierten Quellen 

Daneben steht die Hypothese, dass der Evangelist auf bereits fixierte schriftliche Quellen zurückgriff. R.Bultmann nahm folgende drei an, über deren Existenz seitdem diskutiert wird:

3.3. Komposition aus schriftlichen Quellen und spätere Redaktion

Die beiden eben dargestellten Ansätze werden nun in der zumeist vertretenen literarkritischen Hypothese miteinander kombiniert (so. z.B. Bultmann; Becker u.a.): Einerseits greift Joh. auf schriftl. Quellen zurück (SQ und PG), andererseits finden sich Spuren von sekundärer Bearbeitung. Von Bultmann wurde diese mit dem Titel "kirchlicher Redaktor" benannt, da er hier eine Intention der Anpassung des Joh. an die kirchliche Lehre wirksam sah (Wiedereintrag von futurischer Eschatologie, Sakramente, Sühnetod). Ob allerdings alle Stücke, die Bultmann dieser kirchlichen Redaktion zuschreibt, wirklich sekundär sind, ist umstritten (Bei Bultmann gibt es eine starke Tendenz, "unliebsame" Stellen als Redaktion auszuscheiden). An folgenden Stellen ist am ehesten noch eine Redaktion zu erkennen:

Im ganzen ist festzuhalten, dass die Redaktion nicht im Widerspruch zum Evang. steht, sondern dieses lediglich (in kirchlichem Sinne?) ergänzt und Akzente leicht verschiebt. Es ist durchaus denkbar, dass dies durch Schüler bzw. Mitglieder des joh. Gemeindeverbandes geschah, die Theologie ihrer Schule bzw. der Gemeinde grundsätzlich teilten. Dieser Prozess muss schon recht bald vollendet worden sein, da er sich mit Ausnahme von 7,53-8,11 (Jesus und die Ehebrecherin) nicht mehr in den Handschriften niederschlägt.

Einen literarkritischen Konsens gibt es zur Zeit nicht, da die verschiedenen Hypothesen über die Entstehung des Evangeliums zu sehr differieren. Brauchbar erweist sich daher die These, das Joh.-Evang. auf die Arbeit einer Schule zurückzuführen, die über eine längere Zeit und mit z.T. verändertem Blickwinkel am Evang. gearbeitet hat, im wesentlichen aber eine gleichbleibende Theologie vertritt (vgl. -> Zur Geschichte und Situation der johanneischen Schule). Damit ist es möglich, das Evang. als Gesamt-Text zu interpretieren, ohne seine komplexe Entstehung zu leugnen.


Literatur: J.Becker, ÖTK 4/1; S.27-36, 112-114; Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, S.307-313; H.Thyen, TRE-Art. Johannesevangelium.



Copyright: Matthias Kreplin, 2000