Literarkritische Hypothesen
zum Johannes-Evangelium
Ist die Makrostruktur des JohEv. relativ übersichtlich
(vgl. Zur Komposition des
Johannes-Evangeliums), so ergeben sich doch in der
Mikrostruktur einige Brüche und Spannungen:
- Die Aufforderung nach Judäa zu gehen, als sei Jesus
vorher nie dort gewesen (7,2ff).
- Nach Kap.5, wo Jesus in Jerusalem war, zieht er in 6,1 an
die andere Seite des Sees; es wird ferner in 6,1 die
geographische Situation von 4,43-54 vorausgesetzt. Umgekehrt
scheint 7,1 (bzw. 7,15) an Joh.5 und nicht an Kap.6
anzuknüpfen.
- Am Ende der ersten, in sich sehr geschlossenen
Abschiedsrede 14,31 schlösse sich bestens 18,1 an. Doch
stehen dazwischen die Reden 15-17.
- Eindeutiger Buchschluß in 20,30f => Kap 21 als
Nachtrag.
- Ähnlich erscheint 12,44-50 als Nachtrag zum ersten
Hauptteil.
Zur Erklärung dieser Brüche gibt
es grundsätzlich zwei literarkritische Möglichkeiten:
2. Erklärung durch
Unordnung |
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Unordnungen in Handschriften des Altertums sind mehrfach
belegt. Solche Unordnungen können drei Ursachen
haben:
- mechanische zufällige
Blattvertauschung.
- Nachlassverwalter standen vor einem unvollendeten Werk.
- Tradenden bzw. Redaktoren haben aus inhaltlichen
Gründen eine Umstellung vorgenommen.
Nachdem
R.Bultmann in seinem Kommentar die Unordnungshypothese relativ
extensiv zu Umstellungen benutzte, reduziert sich die Diskussion
in der Folge auf eine vorgeschlagene Umstellung: Einige
Forscher (z.B. J.Becker) nehmen an, dass folgende Reihenfolge
ursprünglich war: 4,1-54; 6,1-71; 5,1-47; 7,15-24; 7,1ff.
Dafür gibt es folgende Argumente: - Geographisch
schließt 6,1ff an 4,43-54 an; und thematisch passt 7,15ff
gut als Fortsetzung zu 5,1-47 (Thema: Schrift).
- Joh.5 enthält 5x759 und Joh.7,14-24 1x763 Buchstaben.
Es könnte sich also gerade um fünf bzw. ein Blatt
gehandelt haben, die aufgrund eines Versehens vertauscht wurden.
Dass beide Blätter mit ganzen Sätzen anfingen bzw.
endeten könnte durchaus denkbar sein.
Gegenargumente: - Joh. scheint auch sonst nicht
viel von thematischer Ordnung zu halten, oft setzen neue
Stücke abrupt ein (z.B. 10,1ff).
- Die "Unordnung" müsste schon bei der Edition des
Originals entstanden sein, da eine derartige Häufung von
sog. Blattvertauschungen in der späteren
Textüberlieferung unmöglich ist. Diese Beobachtung
wird oft mit der These verbunden, dass das Joh. von einem
Herausgeber, der Joh.21 und andere Abschnitte einfügte,
redigiert worden sei (s.u.). Die älteste Handschrift (P52,
um 120 nChr.) kennt (mit Ausnahme von 7,53-8,11) bereits die
heutige Ordnung des Textes.
3. Erklärung durch
Verarbeitung mehrerer Quellen |
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Einige Forscher behaupten (v.a. aufgrund von Stilanalysen mit
statistischen Mitteln) die literarische Einheitlichkeit des Joh.
Doch zeigte sich, dass diese Stilanalysen methodisch gesehen in
ihrer Aussagekraft sehr problematisch sind und dass die
Vertreter der Einheitlichkeitshypothese schwer die
Unstimmigkeiten und Brüche erklären konnten. Deshalb
wurden vor allem literarkritische Schichten-Modelle entwickelt.
Dabei haben sich drei Grundtypen herausgebildet:
3.1. Grundevangelium mit
späterer Redaktion |
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Wellhausen entwickelte die Hypothese, dass der Evangelist ein
Grundevangelium verfasste, das z.T in erheblichem
Maße überarbeitet wurde.
Kritik: Das
Grundevangelium muss (soll es wirklich ein Evangelium gewesen
sein) zumindest aus Wundergeschichten (SQ s.u.) und
Passionsgeschichte bestanden haben. Diese beiden Einheiten sind
allerdings literarisch und theologisch sehr verschieden, so dass
nicht davon auszugehen ist, dass sie in ihrer Grundform von
einem Verfasser stammen.
Die Unterschiede zwischen beiden
Traditionskomplexen:
- SQ hat Nähe zu Mk, PG zu
Lk.;
- Die SQ kommt nirgends auf die Passion, PG nirgends auf
Wunder zu sprechen;
- Hoheitstitel sind verschieden (SQ: Sohn Gottes; PG:
König der Juden, Kyrios);
- SQ enthält Einzelerzählungen, PG ist ein
durchkomponierter Bericht.
3.2. Komposition aus
verschiedenen schriftlich fixierten Quellen |
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Daneben steht die Hypothese, dass der Evangelist auf bereits
fixierte schriftliche Quellen zurückgriff. R.Bultmann nahm
folgende drei an, über deren Existenz seitdem diskutiert
wird:
- Semeia-Quelle (SQ). Folgende Argumente
für ihre Abgrenzung werden genannt:
- Joh.20,30a lässt sich schlecht als Abschluss des
Evangeliums, gut aber als Schluß einer Wunder-Quelle
verstehen (das letzte Zeichen wird Joh.12 erwähnt).
- In keinem Evang. sind Wunder einerseits so massiv
gesteigert, und wird zugleich ihr Wert für den Glauben so
kritisch gesehen (z.B. 2,23-25). Hier könnte also gut
Tradition und Redaktion gegeneinander stehen.
- Die Zählung der Wunder in 2,11 und 4,54
übersieht, dass in 2,23 zusammenfassend von weiteren
Wundern gesprochen wird (Allerdings reden 2,11 und 4,54 von
Wundern in Galiläa, 2,23 dagegen von Wundern in Jerusalem -
beides wird scharf voneinander getrennt).
- Es fällt auf, dass in den Wundergeschichten der joh.
Dualismus, der Stil und Gehalt der Offenbarungsreden,
eschatolog. Aussagen und die joh. Gesandtenchristologie
fehlen.
- Stilanalysen zeigen, dass die Wundergeschichten in einem
einfacheren Griechisch mit semitischer Färbung abgefasst
wurden (aber kein Übersetzungsgriechisch).
J.Becker ordnet SQ auch noch die Täufer-Tradition
zu, andere auch noch Teile aus den Reden. Ist die Existenz
der SQ zwar weniger, so doch ihr Umfang sehr umstritten. Ganz
bestreitet ihre Existenz Thyen (TRE-Art., S.207). Es sieht in
den Wundererzählungen genuin jüdische messianische
Zeichen und kann eine hellenist. qe‹oj
¢n»r-Vorstellung, die von vielen der SQ
unterstellt wird, nicht finden. Die Frage ist z.Z. umstritten.
- Passionserzählung: Auch hier liegt eine Quelle
zugrunde (Der zugrundeliegende Bericht ist der synoptischen
Darstellung ähnlich, entspricht aber nicht dem anderen joh.
Gut), johanneische Zusätze (18,33-37; 19,7-11) lassen sich
leicht abheben. Wo davon ausgegangen wird, dass Joh. die
Synoptiker nicht gekannt hat, wird angenommen, dass Joh hier
eine alte, von Mk. noch unabhängige Fassung der
Passionsgeschichte, aufnimmt.
- Reden-Quelle: Nach Bultmann ist diese Quelle eine
Sammlung vorchristlicher, gnostischer Offenbarungsreden.
Hauptargument ist die Stilanalyse, insbesondere die des Prologs.
Es ist aber zu fragen, ob nicht zwischen Prolog einerseits und
Reden andererseits zu unterscheiden ist. Für ersteren ist
die Annahme eines vorjohanneischen Liedes überzeugend; in
den anderen Stücken, die Bultmann der gnostischen Quelle
zurechnet, finden sich aber die Stilmerkmale des Prologs nicht.
Die mehrmals zu findende Wendung ¢m»n ¢m»n weist z.B.
auf Stiltraditionen der Gemeinde hin, an die Joh. sich gebunden
weiß, und weniger auf schriftl. Vorlagen. Es ist deshalb
eher davon auszugehen, dass die Reden unter Aufnahme
traditioneller Wendungen vom Evangelisten selbst formuliert
wurden.
3.3. Komposition aus
schriftlichen Quellen und spätere Redaktion |
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Die beiden eben dargestellten Ansätze werden nun in der
zumeist vertretenen literarkritischen Hypothese miteinander
kombiniert (so. z.B. Bultmann; Becker u.a.): Einerseits greift
Joh. auf schriftl. Quellen zurück (SQ und PG), andererseits
finden sich Spuren von sekundärer Bearbeitung. Von Bultmann
wurde diese mit dem Titel "kirchlicher Redaktor" benannt,
da er hier eine Intention der Anpassung des Joh. an die
kirchliche Lehre wirksam sah (Wiedereintrag von futurischer
Eschatologie, Sakramente, Sühnetod). Ob allerdings alle
Stücke, die Bultmann dieser kirchlichen Redaktion
zuschreibt, wirklich sekundär sind, ist umstritten (Bei
Bultmann gibt es eine starke Tendenz, "unliebsame" Stellen als
Redaktion auszuscheiden). An folgenden Stellen ist am ehesten
noch eine Redaktion zu erkennen:
- Joh.21 hat deutlich
den Charakter eines Nachtrags: 20,30f ist ein Buchschluß
und 21,24f meldet sich ein Herausgeber zu Wort. Bultmann
identifizierte diesen Herausgeber mit dem "kirchlichen
Redaktor".
- 5,28f und 6,40+41+44+54 (Auferstehung am letzten Tag):
Eintrag der futurischen Eschatologie (Bultmann).
- 6,51c-58: Einfügung der Abendmahlslehre nach der
typisch joh. Brotrede (Bultmann).
- Nachträge zu abgeschlossenen Abschnitten
(J.Becker):
- 3,31-36: Offenbarungsrede, dem Täufer in den Mund
gelegt.
- 10,1-18: Der gute Hirte (nicht mit dem Kontext
verbunden).
- 12,44-50: an den ersten Hauptteil angehängt, der
bereits vorher zu einem inhaltlichen Abschluß gekommen
war.
- 15-17: Weitere Abschiedsreden, die den Zshg zw. 14,31 und
18,1 zerreißen.
"Diese blockartigen
Zusätze fallen durchweg aus dem erkennbaren Aufbau heraus
und enthalten (...) auch meist theologische Verschiebungen"
(J.Becker, 35). - Als Glossen oder kürzere
Zusätze könnten Stellen verstanden werden wie:
- 1,29b: Christus als das Lamm Gottes
- 4,22b: "Denn das Heil kommt von den Juden"
Hier
ist allerdings die Begründung der Ausscheidung als Zusatz
methodisch äußerst problematisch, da nicht formale,
sondern allein inhaltliche Kriterien angewandt werden
können. Hier entscheidet dann oft das Vorverständnis
der Interpreten.
Im ganzen ist festzuhalten, dass die
Redaktion nicht im Widerspruch zum Evang. steht, sondern
dieses lediglich (in kirchlichem Sinne?) ergänzt und
Akzente leicht verschiebt. Es ist durchaus denkbar, dass dies
durch Schüler bzw. Mitglieder des joh. Gemeindeverbandes
geschah, die Theologie ihrer Schule bzw. der Gemeinde
grundsätzlich teilten. Dieser Prozess muss schon recht bald
vollendet worden sein, da er sich mit Ausnahme von 7,53-8,11
(Jesus und die Ehebrecherin) nicht mehr in den Handschriften
niederschlägt. Einen literarkritischen Konsens gibt es
zur Zeit nicht, da die verschiedenen Hypothesen über die
Entstehung des Evangeliums zu sehr differieren. Brauchbar
erweist sich daher die These, das Joh.-Evang. auf die Arbeit
einer Schule zurückzuführen, die über eine
längere Zeit und mit z.T. verändertem Blickwinkel am
Evang. gearbeitet hat, im wesentlichen aber eine gleichbleibende
Theologie vertritt (vgl. -> Zur Geschichte
und Situation der johanneischen Schule). Damit ist es
möglich, das Evang. als Gesamt-Text zu interpretieren, ohne
seine komplexe Entstehung zu leugnen.
Literatur: J.Becker, ÖTK
4/1; S.27-36, 112-114; Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch
zum Neuen Testament, S.307-313; H.Thyen, TRE-Art.
Johannesevangelium.
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Matthias Kreplin, 2000