Die paulinische Ethik des neuen Lebens
 
 
1. Die Dialektik von Indikativ und Imperativ
2. Motivation zur Ethik des neuen Lebens
3. Grundprinzipien der paulinischen Ethik
4. Stellung zu einzelnen ethischen Sachfragen



 
1. Die Dialektik von Indikativ und Imperativ

Es gibt zunächst ein grundsätzliches Verstehensproblem, weil Paulus mit nahezu gleichem Wortlaut Aussage und Aufforderung formuliert:

Es ist zu fragen, wie das gegenseitige Verhältnis zu bestimmen ist. Folgende Möglichkeiten werden diskutiert: Keine dieser Alternativen entspricht der paulinischen Intention, da weder eine einseitige Überbetonung, noch ein Vervollkommnungsprozess aus den Texten zu begründen ist. Da Paulus bei der Verwendung von Indikativ und Imperativ in den entsprechenden Aussagen dieselbe Begrifflichkeit verwendet, darf nicht eine der beiden Aussagen stärker betont werden als die andere, sondern sie sind beide von gleichem Gewicht und müssen aufgrund ihrer engen Bezogenheit erklärt werden.

Der Widerspruch löst sich auf, wo der soteriologische Hintergrund näher betrachtet wird: Paulus sagt einerseits, dass die Christen, die im Glauben mit Christus verbunden sind, nicht mehr der Macht der Sünde unterworfen sind. Andererseits leugnet er aber nicht, dass die Mächte Sünde, Gesetz und Tod, die Christus besiegt hat, noch da sind. Deshalb muss der Christ den Kampf zwischen s£rx und pneàma austragen. Der Zwang, diesen Mächten gehorchen zu müssen, ist ihm aber genommen. Der Imperativ ist darum an den Christen gerichtet, der zwar nicht mehr kat¦ s£rka wohl aber noch ™n sark… lebt (Gal.2,20). Die Formulierung der imperativischen Aufforderung streicht somit nichts an der indikativischen Aussage ab (oder umgekehrt). Das neue Leben, das der Christ empfangen hat ist noch verborgen, deshalb ist beides nötig: der Zuspruch des Heils und der Anspruch es zu ergreifen um zu verwirklichen, was Christus schon verwirklicht hat.

Damit steht der Mensch selbst in der Spannung des "Schon" und "Noch nicht": Er ist zwar grundsätzlich schon von der Macht der Sünde befreit, aber er ist ihrem Einflussbereich noch nicht entzogen. "Die von Christus geschenkte Befreiung kann nur dann gegenüber der noch präsenten Macht der Sünde bewahrt und durchgesetzt werden, wenn der Christ die empfangene Heilsgabe in ständigem Gehorsam bewährt (Röm.6,12-14). Denn die neue Herrschaft ist zwar real, sie ist jedoch noch nicht gegen die Rückzugsgefechte der Sünde endgültig durchgesetzt" (Roloff, 164).
 
 
2. Motivation zur Ethik des neuen Lebens

Die grundlegende Charakteristik des neuen Lebens und gleichzeitig die Motivation der Ethik wird bei Paulus auf verschiedene Weise vollzogen:

3. Grundprinzipien der paulinischen Ethik

Das Zentrum der paulinischen Ethik ist das Liebesgebot. Es bildet den nÒmoj toà Cristoà (Gal.6,2) und ist die Erfüllung des atl. Gesetzes (Röm.13,8-10). Durch das Liebesgebot sind damit alle anderen Einzelanweisungen bestimmt. "Während das atl.-jüdische Gesetz eine Vielzahl von ™ntola… umfasste, ist das Gebot der Liebe die Weisung für den Wandel der Christen, die im jeweiligen Handeln zu konkretisieren ist" (Lohse, 99) Ferner sucht die ¢g£ph nicht das ihre, sondern sieht auf das, was des anderen ist (1.Kor.13,5). Um des anderen willen kann sie auch auf etwas verzichten, was rechtens wäre (vgl.1.Kor.8-10).

Neben dem Liebesgebot steht der Aufbau der Gemeinde und ihre Einheit als handlungsleitendes Motiv. Dies äüßert sich z.B. in der Frage der Gestaltung des Gottesdienstes (1.Kor.11: Herrenmahlsfeier; Götzenopferfleisch 1.Kor.8+10; 1.Kor.14 Zungenreden und Prophetie im Gottesdienst).

Die Paränese der paulinischen Briefe ist durch folgende Grundsätze gekennzeichnet:

  • Die paulin. Paränese "nimmt in manchen Abschnitten traditionelles Gut auf: atl.-jüd. Spruchweisheit, Sätze aus der kynisch stoischen Popularphilosophie, Herrenworte, urchristliche Lebens regeln und katechismusartige Zusammenhänge (so 1.Th.4,1-12 oder Röm.12-13)" (Lohse, 99). Dieser Rückgriff auf Tradition (bei Paulus oft über der Begriff Gewissen) - geschieht aufgrund der Annahme, dass von Christen zu verlangen ist, was auch von einem verantwortungsbewussten Menschen gefordert ist.
  • Paulus entfaltet kein Programm zur Umgestaltung der Welt, sondern es werden Anweisungen zum rechten Umgang mit den Mitmenschen gegeben, die jeweils auf konkrete Situationen hin verfasst sind.
  • Angesichts der Drangsale der Zeit und der Nähe des Endes, ruft Paulus dazu auf, sich nicht an die Dinge der Welt zu verlieren, sondern in der Freiheit in Christus die Distanz und Unabhängigkeit zu bewahren, in der allein man dem Herrn dienen kann (die Zeit ist kurz, daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine... - 1.Kor.7,29-31). Christus ist der Kyrios, deshalb darf über dem Sorgen um die irdischen Dinge nicht die Sorge um (die sache) des Herrn vergessen werden (1.Kor.7,32).
  • In kaum einem paränetischen Abschnitt ist eine Vollständigkeit der thematischen Behandlung angestrebt.
  • 4. Stellung zu einzelnen ethischen Sachfragen

    Zu einzelnen Sachfragen bezieht Paulus folgendermaßen Stellung:

    Paulus nimmt in diesen Fragen (Sklaven, Frauen, Staatsbürger) die Unterordnungsforderung der hellenist.-jüdischen Sozialethik auf und verwendet dabei ebenfalls die traditionellen naturrechtlichen und ordnungstheologischen Argumentationen. Doch hat er in seinen christologischen Ansätzen (Stichwort Freiheit) einen Impuls, der die Unterordnungsforderung aufsprengt.



    Literatur: Ed.Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, S.98-101



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