Die paulinische Ethik des neuen Lebens
 
 
 
| 1. Die Dialektik von Indikativ und
Imperativ |  | 
Es gibt zunächst ein grundsätzliches Verstehensproblem,
weil Paulus mit
nahezu gleichem Wortlaut Aussage und Aufforderung formuliert:
- 
"Wenn wir im Geist leben,
so lasst uns auch im Geist wandeln."
(Gal.5,25).
- 
"Wir sind der Sünde
gestorben" (Röm.6,2) und "Die Sünde
soll nicht an
eurem sterblichen Leib herrschen
(...), unterstellt
eure Glieder nicht als Waffen der Ungerechtigkeit
der Sünde." (Röm.6,12f.)
"Die Sünde soll
nicht über euch
Herr sein" (Röm.6,14).
- 
"Ihr habt Christus angezogen" (Gal.3,27); "Zieht den Herrn Jesus
Christus an" (Röm.13,14).
Es ist zu fragen, wie
das gegenseitige Verhältnis zu
bestimmen ist. Folgende Möglichkeiten werden diskutiert:
- 
Betonung auf dem Indikativ
-> Es dürft dann keinen
Imperativ geben, weil der Christ ohne
Sünde ist.
- 
Betonung des Imperativ
-> Der Indikativ würde viel
zu hoch greifen
und könnte nicht ernst genommen werden.
- 
Es soll eine Bewegung zum Ausdruck kommen, in der man vom Indikativ
gegebenen Anfang durch ständig wiederholten Imperativ allmählich
zur Vollendung gelangt.
Keine dieser Alternativen entspricht der paulinischen
Intention, da weder eine einseitige Überbetonung,
noch ein Vervollkommnungsprozess aus den
Texten zu begründen
ist. Da Paulus
bei der Verwendung
von Indikativ und
Imperativ in den
entsprechenden Aussagen dieselbe Begrifflichkeit verwendet, darf
nicht eine der beiden Aussagen stärker betont werden als die andere,
sondern sie sind beide von gleichem Gewicht
und müssen aufgrund ihrer
engen Bezogenheit erklärt werden.Der Widerspruch löst sich auf, wo der soteriologische Hintergrund
näher betrachtet wird: Paulus sagt einerseits,
dass die Christen, die im Glauben
mit Christus verbunden sind, nicht mehr der Macht
der Sünde unterworfen sind.
Andererseits leugnet er aber nicht, dass
die Mächte Sünde, Gesetz und Tod,
die Christus besiegt hat, noch da
sind. Deshalb muss der Christ den Kampf zwischen
s£rx und pneàma austragen.
Der Zwang, diesen Mächten gehorchen zu müssen, ist
ihm aber genommen. Der Imperativ ist darum
an den Christen gerichtet,
der zwar nicht mehr kat¦ s£rka
wohl aber noch ™n sark… lebt (Gal.2,20). Die
Formulierung der imperativischen Aufforderung streicht
somit nichts an der indikativischen
Aussage ab (oder
umgekehrt). Das neue Leben, das der Christ empfangen
hat ist noch verborgen, deshalb ist beides nötig:
der Zuspruch des Heils und der
Anspruch es zu ergreifen um zu verwirklichen,
was Christus schon
verwirklicht hat.
Damit steht der Mensch selbst
in der Spannung des "Schon" und "Noch
nicht": Er ist zwar grundsätzlich schon
von der Macht
der Sünde befreit,
aber er ist
ihrem Einflussbereich noch nicht entzogen. "Die
von Christus geschenkte Befreiung
kann nur dann gegenüber der noch
präsenten Macht der
Sünde bewahrt und
durchgesetzt werden,
wenn der Christ
die empfangene Heilsgabe in ständigem Gehorsam bewährt
(Röm.6,12-14). Denn die neue Herrschaft ist zwar real,
sie ist jedoch noch nicht gegen die
Rückzugsgefechte der
Sünde endgültig
durchgesetzt" (Roloff, 164).
 
 
| 2. Motivation zur Ethik des neuen
Lebens |  | 
Die grundlegende Charakteristik des neuen Lebens und
gleichzeitig die Motivation der
Ethik wird bei Paulus auf verschiedene Weise
vollzogen:
- 
Identifikation mit Christus: "Nicht mehr ich lebe, es lebt aber
in mir Christus" (Gal.2,20). Paulus spricht
von einer wohl kaum mystisch zu denkenden Vereinigung
mit Christus, die mich
dazu führt, seinem
Wesen gemäß zu leben.
Hier gibt es
mehrere Grundmetaphern:
- 
Christus anziehen (Gal.3,27; Röm.13,14).
- 
Mit Christus der Sünde (Röm.6,3ff) bzw. dem
Gesetz (Gal.2,19) gestorben und dadurch von diesen
Mächten befreit.
- 
Nachahmung Christi:
Dieses Grundmodell begegnet z.B. in
der Einleitung zum Philipper-Hymnus: "Seid
untereinander so gesinnt, wie
es (dem Leben) in Christus Jesus
entspricht" (Phil.2,5).
Ferner ist hier zu nennen die Rede vom
Vorbild und der Nachahmung
(mime‹sqai) Christi (1.Kor.11,1).
1.Kor.4,16; Phil.3,17
und 4,9 kann Paulus sich selbst auch als Vorbild hinstellen.
- 
Den eigenen Leib als Gott wohlgefälliges Opfer darbringen,
was den vernünftigen
Gottesdienst darstellt
(Röm.12,1f). Damit
bringt Paulus "zum Ausdruck, dass
alle Bereiche des menschlichen Lebens
der Ort sind, an dem der Gottesdienst
mitten im Alltag der
Welt zu vollziehen ist (...) Damit ist die Ausgrenzung eines
heiligen Bezirks aus der Welt aufgehoben und sind die kultischen
Grenzen gesprengt" (Lohse, 100).
- 
Die Charismenlehre vollzieht wieder
auf andere Weise den Zshg. zw.
Geist-Bestimmtheit der
Christen und praktischem Verhalten (vgl. hierzu Die
paulini sche Ekklesiologie).
| 3. Grundprinzipien der paulinischen
Ethik |  | 
Das Zentrum der paulinischen Ethik ist das Liebesgebot. Es bildet
den nÒmoj toà Cristoà (Gal.6,2)
und ist die Erfüllung des
atl. Gesetzes (Röm.13,8-10).
Durch das Liebesgebot sind
damit alle anderen
Einzelanweisungen bestimmt. "Während
das atl.-jüdische Gesetz eine Vielzahl
von ™ntola… umfasste, ist
das Gebot der Liebe die Weisung für den Wandel der Christen, die im
jeweiligen Handeln zu konkretisieren ist" (Lohse, 99)
Ferner sucht die ¢g£ph nicht
das ihre, sondern sieht auf das, was des anderen ist (1.Kor.13,5). Um
des anderen willen kann sie auch auf
etwas verzichten, was
rechtens wäre (vgl.1.Kor.8-10).
Neben dem Liebesgebot
steht der Aufbau der Gemeinde
und ihre Einheit als handlungsleitendes
Motiv. Dies äüßert sich z.B. in der Frage
der Gestaltung des Gottesdienstes (1.Kor.11:
Herrenmahlsfeier; Götzenopferfleisch
1.Kor.8+10; 1.Kor.14 Zungenreden
und Prophetie im Gottesdienst).
Die Paränese der paulinischen Briefe ist durch folgende
Grundsätze gekennzeichnet:
Die paulin. Paränese "nimmt in manchen Abschnitten traditionelles
Gut auf: atl.-jüd.
Spruchweisheit, Sätze aus der kynisch
stoischen Popularphilosophie, Herrenworte, urchristliche Lebens
regeln und katechismusartige Zusammenhänge (so 1.Th.4,1-12
oder Röm.12-13)" (Lohse, 99).
Dieser Rückgriff auf Tradition (bei Paulus oft über der
Begriff Gewissen) - geschieht aufgrund
der Annahme, dass
von Christen zu verlangen ist,
was auch von einem verantwortungsbewussten Menschen gefordert ist.
Paulus entfaltet kein
Programm zur Umgestaltung
der Welt, sondern
es werden Anweisungen
zum rechten Umgang
mit den Mitmenschen
gegeben, die jeweils auf konkrete Situationen
hin verfasst sind.
Angesichts der Drangsale der Zeit und der Nähe des Endes,
ruft Paulus dazu auf,
sich nicht an die Dinge der Welt zu verlieren,
sondern in der Freiheit in Christus die Distanz und Unabhängigkeit
zu bewahren, in der allein man dem Herrn dienen
kann (die Zeit ist
kurz, daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so
verhalten, als habe er keine...
- 1.Kor.7,29-31). Christus ist der Kyrios,
deshalb darf über dem Sorgen um die irdischen Dinge
nicht die Sorge um (die sache) des Herrn vergessen werden (1.Kor.7,32).
In kaum einem paränetischen Abschnitt ist eine
Vollständigkeit der thematischen
Behandlung angestrebt.
| 4. Stellung zu einzelnen ethischen
Sachfragen |  | 
Zu einzelnen Sachfragen bezieht Paulus folgendermaßen Stellung:
- 
Die Sklaverei wird nicht grundsätzlich kritisiert (1.Kor.7,17
24). Sklaven sollen weiterhin ihren Herrn
untertan sein, auch
wenn sie die
Möglichkeit hätten frei zu werden
(1.Kor.7,21). Dennoch kann sich Paulus
auch im Einzelfall für die Freilassung
eines Sklaven einsetzen (Phm.).
Grundregel ist hier:
"Jeder soll in dem Stand bleiben,
in dem ihn Gottes Ruf getroffen hat" (1.Kor.7,17+20+24).
Hier kommt nicht etwa Gleichgültigkeit ge
genüber den Lebensbedingungen der Menschen zum Ausdruck, sondern
Paulus fordert, die
in Christus geschenkte Freiheit dort
zu verwirklichen, wo der/die Einzelne
hingestellt ist (Lohse, 100). Weil
die Christen einander in Liebe begegnen sollen,
bestimmt die Liebe auch den Umgang des
irdischen Herrn mit seinem Sklaven (vgl. Phm.).
Beide sind Brüder in Christus. (Hintergrund:
Öffentliche Aufforderung zur Freilassung von Sklaven oder zum Versuch,
sich aus der Sklaverei zu befreien, wäre
Aufforderung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt).
- 
Paulus fordert die
Unterordnung der
Frau unter den
Mann (1.Kor.11,2-16):
"Die Frau ist Abglanz (dÒxa) des
Mannes", der Mann aber
ist e„kën kaˆ dÒxa qeoà"
(1.Kor.11,7). Paulus
argumentiert hier mit
Vorstellungen, die
Emanationstheorien nahestehen
und verwendet auch
naturrechtlichen Kategorien
(1.Kor.11,14). Dennoch hält Paulus fest: "Im Herrn gibt es
weder die Frau
ohne den Mann
noch den Mann
ohne die Frau"
(1.Kor.11,11), denn
"alles stammt von
Gott" (1.Kor.11,12).
Ferner "es gibt
nicht mehr Juden und Griechen,
Sklaven und Freie,
nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus
Jesus" (Gal.4,28).
Damit ist zugleich
eine grundsätzliche
Relativierung aller Geschlechtsunterschiede gegeben.
 Die Aufforderung "Das Weib schweige
in der Gemeinde"
geht wohl nicht auf Paulus
zurück. Sie widerspricht 1.Kor.11 und ist außerdem handschriftlich
unsicher bezeugt.
- 
Die Sätze über das rechte Verhalten
der Christen gegenüber den
staatlichen Behörden
(Röm.13,1-7) sind
auf traditioneller
Unterweisung begründet, die in der hellenistischen Synagoge
aus gebildet worden ist, ohne dass
eine christologische oder eschatologische Korrektur
vorgenommen wird. Auch werden
keine Einschränkungen
für die Gehorsamspflicht
genannt (auch in
der Synagoge gibt es ein anerkanntes Widerstandsrecht),
die Paulus sicher
kannte (Hintergrund:
Paulus will sich evt.
der röm. Gemeinde
als staatsloyal ausweisen, so dass
sie keine negativen Konsequenzen
zu fürchten hat,
wenn sie ihn
aufnimmt). Die ™xous…ai
(staatliche Gewalten), mit denen jeder Mensch in seinem
Lebensbereich zu tun
hat, sind als Gottes gute
Ordnungen zu achten.
Da es sich hier um Überlieferungsgut handelt, fehlt eine
spezifisch christliche Begründung. Ganz allgemein "um des Gewissens
willen" ist es nötig, untertan zu sein.
Paulus nimmt in diesen Fragen (Sklaven, Frauen,
Staatsbürger) die Unterordnungsforderung der
hellenist.-jüdischen Sozialethik
auf und verwendet dabei ebenfalls die traditionellen
naturrechtlichen und ordnungstheologischen Argumentationen.
Doch hat er in seinen christologischen
Ansätzen (Stichwort Freiheit) einen Impuls,
der die Unterordnungsforderung aufsprengt.
- 
Die Grundregel, im Stand zu bleiben,
in dem man bekehrt wurde, wendet
Paulus auch auf die Ehe an. So
rät er angesichts der
kurzen Zeit (Naherwartung) Unverheirateten zur Ehelosigkeit
und empfiehlt Witwen
die Wiederheirat zu meiden
(1.Kor.7). Denn Sexualaskese
(= Verzicht auf die Ehe) ist
Freiheit für
den umfassenden Dienst des Herrn (7,32-34:
Dualismus von Kyrios und Kosmos).
Dennoch macht er daraus kein Gesetz, sondern
begreift die Ehelosigkeit
als Charisma, das nicht
jedem gegeben ist
(1.Kor.7,7). Wer Sexualaskese nicht durchhält,
soll heiraten, denn
"Brennen" (7,9) oder Unzucht (=außereheliche
Sexualität) muss auf jeden Fall vermieden
werden. Auf keinen Fall findet sich bei
Paulus eine leib- oder sexualfeindliche
Begründung. Auch
wird die Sexualaskese
nicht an ein bestimmtes
Amt in der
Gemeinde gebunden. Ferner wird die Verwerfung
der Ehe als Sünde (durch
die korinthischen Enthusiasten?) ausdrücklich
abgelehnt (1.Kor.7,28+36).
Eine positive theologische Begründung der
Ehe (wie z.B. Gen.2,24)
findet sich bei Paulus aber auch nicht. Die Ehe
wird zugestanden.
- 
Die Ehescheidung bzw.
die Wiederheirat verbietet Paulus
im Namen Jesu (1.Kor.7,12;
vgl. Mt.5,32; Lk.16,18; Mk.10,12). Hier steht
Paulus und das
junge Christentum im
Widerspruch zur Umwelt.
Mischehen können nur aufgelöst werden, wenn der
nicht christl. Partner
es will (7,12-16). Prostitution (1.Kor.6,15f)
Ehebruch und Homosexualität
betrachtet Paulus als
Unzucht (porne…a) und verbietet
sie (1.Kor.5,11; 6,9; 7,2; Röm.1,24-27;
Gal.5,19).
- 
Die Stellung des Paulus
zu Besitz und Armut
wird nirgendwo systematisch
entfaltet. Paulus fordert nicht die Armut,
kritisiert nicht das Eigentum, legt die Gemeinde nicht auf Besitzverzicht
fest. So ist
Paulus eher von
einer eschatologisch
apokalyptisch begründeten
Gleichgültigkeit gegenüber
Besitz bestimmt
(1.Kor.7,30f). Allerdings
ist die Verweigerung
des Teilens ein
Tatbestand, der den
innergemeindlichen Frieden
zerstört und das Herrenmahl unwürdig macht (1.Kor.11,22).
So ist auch die
Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde
Ausdruck der Einheit
der Kirche. Die Kollekte wird mit dem
Vorbild Christi motiviert
"Er, der reich
war, wurde euretwegen
arm" (2.Kor.8,9), aber nicht gesetzlich
geregelt: "Jeder gebe, wie er es sich in seinem
Herzen vorgenommen hat, nicht verdrossen
und nicht unter
Zwang" (2.Kor.9,7).
- 
Ferner erwartet er von
den Gemeinden, dass
sie ihre Lehrer
unterstützen (Gal.6,6)
und Gastfreundschaft gewähren
(Röm.12,13). Für sich selbst nimmt er allerdings
nur selten Unterhaltszahlungen
in Anspruch (vgl.
2.Kor.11,8; Phil.4,10+15; 1.Kor.9.7-15).
Ferner ist die Mahnung vor Habsucht und Geiz
durchgehendes Element der paulin. Lasterkataloge (1.Kor.5,10; 6,10; Röm.1,29).
Literatur: Ed.Lohse, Grundriß der
neutestamentlichen Theologie, S.98-101
Copyright: Matthias Kreplin, 2000

