Die paulinische Ekklesiologie
 
 
1. Begriffe und Bezeichnungen
2. Die Kirche aus Juden und Heiden (Röm.9-11)
3. Die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden
4. Die paulinische Charismenlehre
5. Die Gemeinde als der Leib Christi
6. Der Gottesdienst



 
1. Begriffe und Bezeichnungen

Paulus verwendet viele, z.T. traditionelle Bezeichnungen für die Gemeinde (vgl. Die Kirche und ihr Selbstverständnis im Kerygma der Urgemeinde):

2. Die Kirche aus Juden und Heiden (Röm.9-11)

Das junge Christentum stand vor der Frage, ob und in welcher Weise die geschichtliche Kontinuität zw. dem Israel des ATs und der christlichen Kirche erhalten werden soll. Ferner war zu verstehen, welche Stellung das ungläubige Israel hatte, wo doch Jesus als der Messias Israels gekommen war. Dazu gab es mehrere Lösungsversuche:

Paulus nimmt in seiner grundsätzlichen Ausführung zu diesem Thema in Röm.9-11 Impulse aus allen drei Bereichen auf, verbindet diese aber zu einem eigenständigen Konzept:

1. Grundthese: "Nicht alle, die aus Israel stammen, sind Israel" (9,6b). Das empirische Israel ist nicht durch biologische Konstanz schon Volk Gottes. Vielmehr hat Gott in die biologischen Gegebenheiten erwählend und verwerfend eingegriffen (Beispiele: Ismael/Isaak; Esau/Jakob). Die Zugehörigkeit zum Gottesvolk wird durch Gottes freie Erwählung konstituiert. Jetzt hat Gott die Judenchristen als heiligen Rest Israels erwählt (9,27ff -> Jes.1,9; 10,22f) und die Heidenchristen als neuen Teil des Gottesvolkes hinzuberufen (9,25f -> Hos.2,25+1). Durch diese These konnte das Judenchristentum als das wahre Israel verstanden werden; das Heidenchristentum war in dieses aufgenommen. Damit ist deutlich, dass Gott sein Volk nicht (ganz) verstoßen hat, denn das Judenchristentum stellt einen heiligen Rest dar (11,1-10). Die Kirche aus Juden und Heiden ist damit das wahre Israel, dem die Verheißung gilt. Aus dieser Grundthese folgt die Frage, was mit dem ungläubigen Israel sei und welche Funktion das AT habe.

2. Grundthese als Antwort aus der Perspektive Israels auf die aufgeworfenen Fragen: "Die Israeliten haben das Heil verfehlt, weil sie nach „d…an dikaiosÚnh strebten, deren Ende Christus ist" (9,31-10,4). Damit ist zweierlei klar:

3. Grundthese. Sie gibt eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des ungläubigen Israels aus der Perspektive Gottes: Gott hat einen heilsgeschichtlichen Plan auch mit dem ungläubigen Israel: Der Unglaube Israels ist Folge göttlicher Verstockung (11,8). Doch dieser Unglaube führte zur Bekehrung der Heiden. Diese Bekehrung der Heiden soll Israel eifersüchtig machen (11,19). Wenn die Zahl der Heiden voll ist, wird ganz Israel gerettet werden (11,25 - ein must»rion). Denn Gottes Gnade und Berufung ist unwiderruflich (und damit auch das AT). Damit kommt es zu einer kühnen Umkehrung des judenchristlichen Motivs der endzeitlichen Völkerwallfahrt. Die Juden kommen zum Gottesvolk aus Juden- und Heidenchristen hinzu, nicht die Heiden zu den Juden.

4. Grundthese. Sie beleuchtet das Verhältnis zu den Juden(christen) aus der Perspektive der Heidenchristen: Dazu verwendet Paulus das Bild vom Ölbaum: Israels Unglaube gab Raum für die Heiden, sie wurden als wilder Ölzweig der heiligen Wurzel aufgepfropft. Auch wenn die fremden Heiden hinzukommen, bleibt der heilige Baum jüdischen Ursprungs (das AT bleibt damit auch heilige Schrift). Deshalb können sich die Heidenchristen nicht überheben, da sie selbst unter der Gefahr stehen, wieder ausgerissen zu werden. In der Endzeit werden dann nicht die Heiden von außen zum Gottesvolk hinzukommen, sondern Israel wird wieder in den Ölbaum eingepflanzt werden (11.24). Die von Natur aus zugehörigen Zweige werden dann leichter wieder eingepflanzt als die von Natur aus fremden.
 
 
3. Die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden

Als Glieder des Gottesvolkes sind Juden und Heiden zur Einheit der Kirche zusammengeschlossen. Paulus sah zwar die Jerusalemer Gemeinde nicht als Instanz an, die über die Wahrheit seiner Verkündigung befinden konnte, doch er war sehr darauf bedacht, dass seine Evangeliums-Verkündigung von dort anerkannt wurde und legte den Aposteln in Jerusalem sein Evangelium vor (Gal.2,1-10). Es war ihm wichtig, Übereinstimmung darin zu erzielen, dass Christi Botschaft auch für die Heiden galt (Gal.2,2: "damit ich nicht vergeblich liefe oder gelaufen wäre"). Von der Wahrheit seiner gesetzesfreien Predigt wäre Paulus aber auch bei einem Bruch mit Jerusalem nicht abgewichen (Gal.2,5). So ist durch den Handschlag mit den "Säulen" auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (Gal.2,9) die Einheit der Kirche, die durch das eine Evangelium begründet ist, bestätigt. Um diese Einheit zum Ausdruck zu bringen, sammelt Paulus die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, die er so begründet: Weil die Heiden Anteil an den geistlichen Gütern erhalten haben, ist es nur richtig, einen leiblichen Dank zu erweisen (Röm.15,27).

In seinen eigenen Gemeinden war das Zusammenleben zw. Juden und Heiden wohl kaum ein Problem, zumindest erfahren wir nicht davon. Doch wo es um Konflikte ging wie das Einhalten von Feiertagen (Röm.14,5f) oder das Essen von (Götzenopfer)fleisch (1.Kor.8; Röm.14), postulierte Paulus zwar eine grundsätzliche Freiheit von kultischen Gesetzen, verlangte aber, dass die Freiheit in Rücksicht auf die anderen Gemeindeglieder ausgeübt werde. Auf jeden Fall muss vermieden werden, dass einer dem anderen Anstoß gibt (Röm.14,20; 1.Kor.8,9+13). Die Starken (die sich keiner kultischen Regel unterstellen), sollen auf die Schwachen, die meinen, dies tun zu müssen, Rücksicht nehmen. Auch hier geht es letztlich um den Erhalt der Einheit der Gemeinde.
 
 
4. Die paulinische Charismenlehre

Ein wesentliches Zentrum der paulin. Ekklesiologie ist die Charismenlehre. Das Wort c£risma begegnet zwar im Profangriechischen, jedoch recht selten. Die Wortbedeutung ist dort Gabe, Geschenk, Wohltat und Hulderweisung. Es war Paulus, der diesen Begriff aus der Umgangssprache in die christliche Sprachwelt eingeführt hat. Paulus bezeichnet damit alle Ämter, Dienste, Aufgaben und enthusiastischen Phänomene (Zungenreden, Prophetie), die einzelne Glieder der Gemeinde durch die Wirkung des Geistes vollbringen. Damit werden die in diesen Wirkungen sichtbar werdenden Begabungen der einzelnen Christen als Gabe des Geistes Christi gekennzeichnet. Das c£risma ist damit die Individuation der c£rij. Zentral begegnet der Begriff in den drei Charismenlisten (1.Kor.12,4-11; 12,28-30; Röm.12,6-8). Der darin zu findende Wechsel zw. Funktionsbezeichnungen (Lehrer) und Personenbezeichnungen (einer, der Wunder tut) soll keine Gemeindeordnung abbilden, sondern die Vielfalt der Charismen zum Ausdruck bringen. In den Listen lassen sich folgende Gruppen von Charismen erkennen:

Die Charismen sind damit keine außerordentlichen, sondern alltägliche Phänomene. Jedes Gemeindeglied verfügt über ein eigenes Charisma. Erst in späteren Schriften (Past., Petr., Did.) wird aus dem Charismen das Amtscharisma des Amtsträgers.

Die Charismen sollen führen:

Die Zuordnung der einzelnen Charismen beschreibt Paulus durch das Bild vom Leib mit den vielen Gliedern (s.u.) als prinzipiell gleichberechtigt (Die Reformation zog daraus die Konsequenz und sprach vom Priestertum aller Gläubigen). Paulus, der zwar auch schon verschiedene Ämter kennt (1.Th.5,12: Gemeindeleiter; 1.Kor. 12,28: Apostel, Propheten und Lehrer), ordnet diese Ämter aber prinzipiell den anderen Charismen ein. Auch die Ämter werden damit dem Aufbau der Gemeinde untergeordnet. Sie haben - wie alle anderen Charismen auch - dienende Funktion.

Obwohl Paulus bereits verschiedene wohl fest institutionalisierte Ämter kennt, war das Gemeindeleben im paulinischen Missionsgebiet nicht durch eine einheitliche Verfassung geregelt. Es sollte so gestaltet werden, dass der Tempel Gottes (=der Glaubende - 1.Kor.6,19; 3,16) heilig gehalten und der Leib Christi erbaut wird. Weil die Gemeinde dafür verantwortlich ist, die Heiligkeit des Tempels Gottes (=Gemeinde - 2.Kor.6,16) zu wahren, muss sie Verstöße gegen diese Heiligkeit ahnden (1.Kor.5,1-5 Ausschluß eines Blutschänders); denn in der Versammlung der Gemeinde, die als Gottes heiliges Volk zusammentritt, ist der Kyrios selbst gegenwärtig.

Anlass für die Entwicklung der Charismenlehre dürfte wohl die Auseinandersetzung mit korinthischen Enthusiasten gewesen sein. Diese waren besonders stolz auf ihre pneumatik£ (1.Kor.2,13+15; 12,1; 14,1 u.a.). Sie sahen in den massiven und explosiven Geisterfahrungen wie der Zungenrede (™n glèssaij lale‹n u.a.) und den dun£meij (Wundertaten) den wunderhaften Einbruch der Geistwirklichkeit der v.a. zur individuellen Erbauung diente. Paulus dagegen ordnet diese pneumatik£ - ohne ihre Herkunft aus dem Wirken des Geistes zu bestreiten - unter die anderen Charismen ein (1.Kor.12,4-11 und 28-30 wird die Glossolalie auffällig an den Schluss gesetzt, Röm.12 fehlt sie ganz) und ordnet sie dem Gemeindeaufbau zu. Dadurch kommt es zu einer Relativierung der pneumatik£ und zum Kriterium des Nutzens. Die Wunderhaftigkeit der pneumatik£ ist für Paulus ferner noch kein Beweis auf ihre Herkunft aus dem Wirken des Geistes, denn auch Dämonen können wunderhafte Dinge bewirken. Doch wo das Bekenntnis zu Christus gesprochen wird, da ist der Geist gegenwärtig (1.Kor.12,3). Damit vollzieht Paulus eine Bindung der pneumatik£ an das Christusbekenntnis.

Auch gibt es bei Paulus die Tendenz, die weite Bereiche der Ethik von der Charismenlehre her zu begreifen. So wird auch der Personenstand (verheiratet-ledig) als Charismen bezeichnet (1.Kor.7,7).
 
 
5. Die Gemeinde als der Leib Christi

Die Rede vom Leib Christi begegnet in zweierlei Zusammenhängen:

6. Der Gottesdienst

Im Gottesdienst wird das Evangelium verkündet und die Gemeinde unterwiesen. Neben der didac» (Lehre), in der die Auslegung des Kerygmas und die Anweisung für den Wandel der Christen geschieht, ist von yalmo… (atl. Psalmen und urchristliche Hymnen) die Rede, die die Gemeinde singt (1.Kor.14,26: "Wenn ihr zusammenkommt,... Psalm... Lehre... Offenbarung... Zungenrede... Auslegung...").

Zwar scheint der Gottesdienst nicht an eine bestimmte Ordnung gebunden zu sein, sondern dem freien Walten des Geistes sollte Raum gelassen werden, aber es sollte zumindest darauf geachtet werden, dass ein klares und verständliches Zeugnis laut wird (1.Kor.14,23-25) damit ein zufällig hereinkommender Ungläubiger die Gemeinde nicht für eine Versammlung von Verrückten hält, sondern von dem Gesagten getroffen und überführt wird. Wer immer im Gottesdienst das Wort nimmt, soll so sprechen, dass die anderen dazu Amen sagen können (1.Kor.14,16).
 


Literatur: Ed.Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, S.101-103; J.Roloff, Neues Testament, S.176-178



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