Die Abfassung des Johannes-Evangeliums
Für die Entstehung des Joh. ist mit der Wirksamkeit einer theologischen
Schule zu rechnen (siehe Zur Geschichte und
Situation der johanneischen Schule). Auf diesem Hintergrund sind folgende
Fragen zur Abfassung des Joh. zu klären:
Die Verfasserfrage stellt die sogenannte alte johanneische Frage
dar. Lange wurde versucht, den Verfasser als Augenzeuge Jesu zu erweisen,
und damit die Legitimität seiner Theologie zu begründen. Nach
altkirchlicher Tradition (Irenäus) ist der Zebedaide Johannes
der Autor des JohEv. Er habe sein Evangelium in hohem Alter in Ephesus
geschrieben. Doch dagegen spricht:
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Da der Synagogenausschluss bereits vollzogen ist, müsste der Zebedaide
schon sehr alt gewesen sein. Nach Mk.10,35-40 ist aber anzunehmen, dass
dieser gegen 44 nChr. als Märtyrer unter Herodes Agrippa das Martyrium
erlitt.
-
Wenn der Zebedaide der Autor sein sollte, wie könnte die große
Differenz zur synopt. Tradition erklärbar sein, die doch die ursprüngl.
Verkündigung Jesu eher wiedergibt?
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Hinter dem Joh. steht ein längerer Traditionsprozess (Verarbeitung
von Quellenmaterial). Dies wäre wohl kaum geschehen, wenn der Autor
Augenzeuge gewesen wäre.
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Es gibt keine Hinweise bei Ignatius, der bei einer Abfassung in Ephesus
durch den Zebedaiden das Joh.-Evang. ja doch gekannt haben müsste.
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Oft wird der Lieblingsjünger mit dem Zebedaiden identifiziert
und dann 21,24 als Beleg für dessen Autorschaft verwendet. Doch dagegen
spricht, dass im ganzen Evangelium die Anonymität des Lieblingsjüngers
gewahrt wird. Ferner lässt sich diese Gestalt auch aus ihrer Funktion
innerhalb der johann. Schule verstehen (s.o.).
L.Schenke rechnet damit, dass das JohEv. aus einer Grundschrift des Lieblingsjüngers
entstanden sei. Dieser sei ursprünglich Johannes-Jünger gewesen
(1,35ff), gehörte von Anfang an zu den Jüngern Jesu, nicht aber
zum Zwölferkreis. Seine Schrift sei später von einem Schüler
bearbeitet worden. Der Lieblingsjünger (oder sein Schüler?) sei
evt. mit dem Presbyter von 2.Joh und 3.Joh zu identifizieren. Gegen diese
Theorie spricht jedoch:
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Dem Lieblingsjünger (als Augenzeugen) könnten höchsten die
Semeia-Quelle und der passionsbericht zugeschrieben werden. Die Offenbarungsreden
sind schwerlich einem Augenzeugen zuzurechnen.
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Diese Theorie setzt eine sehr genaue Kenntnis der Geschichte der johanneischen
Gemeinde voraus, die jedoch weithin sich nur unsicher rekonstruieren lässt.
Fazit: Der Autor (bzw. die Autoren, wenn mit mehreren Bearbeitern
gerechnet wird) ist nicht identifizierbar und dem Namen nach unbekannt.
Dennoch dürfte er eine hohe Autorität innerhalb der johann. Schule
besessen haben.
Die von Irenäus abstammende Tradition spricht von einer Entstehung
in Ephesus. Nur Ephraim der Syrer nennt Antiochien (dies allerdings
wohl, um seiner Heimatstadt eine glorreiche Vergangenheit zu beschaffen).
Für eine Abfassung in Ephesus spricht, dass es im Joh. einige Beziehungen
mit dieser Stadt gibt:
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Die Erwähnung der Griechen in 7,35 und 12,20 weist auf Griechenland
oder Kleinasien (Jedoch sind diese Griechen durchaus auch als griechisch
sprechende Diaspora-Juden verstehbar, die aus allen möglichen Teilen
des röm. Reiches kommen könnten).
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Die Hervorhebung des Philippus, der in der kirchl. Tradition fest mit Ephesus
verbunden ist.
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Die Apk., die ebenfalls Beziehungen zu Ephesus hat, weist einige Gemeinsamkeiten
mit der johann. Theologie auf.
Daraus lässt sich schließen, dass es Beziehungen zwischen
dem johann. Kreis und Ephesus gegeben haben könnte.
Allerdings spricht folgendes gegen eine Lokalisierung des johann.
Gemeindeverbandes nach Kleinasien:
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Die Besonderheit der johann. Theologie, die auf eine relative Abgeschlossenheit
der johann. Gemeinden schließen lässt. Eine solche ist weder
in Ephesus noch im syr. Antiochien möglich.
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Das Judentum scheint im Joh.-Evang. starken Einfluss auf staatl. Institutionen
zu haben (9,13ff; 7,32+45; 11,45-47+47). Die Juden treten dabei in behördlicher
Machtstellung auf. Eine solche Stellung hatten Juden in Kleinasien nicht.
Gegen eine Lokalisierung in Palästina spricht:
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gemischte Zusammensetzung der Gemeinde aus Juden und Heiden.
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die ihnen gemeinsame griechische Sprache
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falsche Angaben über den jährlichen Wechsel im Hohepriesteramt
(11,49+51; 18,13)
Wahrscheinlich ist eine Lokalisierung in Syrien. Dafür spricht:
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Berührung mit mandäischen Schriften, Ignatius von Antiochien
und den Oden Salomos.
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Polemik gegen die Täufer und die Juden.
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Kenntnis palästin. Geographie
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Kenntnis der targumischen AT-Auslegung
K.Wengst schlägt über die allgemeine These Syrien eine genauere
Lokalisierung in die süd-westlichen Teile des Königreichs
von Agrippa II. vor (Gaulanitis; Betanäa). Dafür sprechen
folgende Beobachtungen, die alle in diesem Gebiet erfüllt sind:
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griechische Sprache.
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Gemeinde besteht mehrheitlich aus Judenchristen.
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national gemischte, mehrheitlich aus Juden dominierte Umwelt.
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Das Judentum erscheint geradezu in behördlicher Machtstellung (Dies
weist Wengst mit einigen histor. Quellen nach).
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Der Einfluss der pharisäischen Führung von Jabne war gegeben
(auch das weist Wengst mit hist. Quellen nach).
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Lokaltraditionen vom See Genezareth werden festgehalten.
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Das Gebiet ist ländlich und sehr weiträumig. Das Thema der "Sammlung
der Zerstreuten" (11,52) passt in einer solchen Region sehr gut.
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Das Gebiet ist relativ abgeschieden, so dass auch die Besonder heit der
johann. Theologie verstehbar wäre.
L.Schenke versucht die Lokalisierung in der Gaulanitis und in Betanäa
mit der Verbindung zu Ephesus zu vereinbaren, indem er annimmt, dass
die johanneische Schule zunächst in Südwest-Syrien lebte und
dort auch ihre eigenständige Theologie entwickelte, durch die dortige
Verfolgung durch die Juden aber zur Flucht nach Kleinasien gezwungen wurden.
Dort hätten sich dann Vertreter der johanneischen Schule in Ephesus
niedergelassen.
Der terminus a quo ist der Synagogenausschluss um 80 nChr. (Wengst)
oder 85 nChr. (Thyen). 12,42 spricht dafür, dass er noch nicht vollzogen
ist, da hier noch von heimlichen Sympathisanten innerhalb der Synagoge
gesprochen wird (so Wengst). Allerdings bahnt er sich an (16,2), oder liegt
sogar um einige Zeit zurück (9,22). Für letzteres spricht auch
die distanzierte Rede von "eurem Gesetz" (8,17; 10,34).
Der terminus ad quem ist der Papyrus P52. Er gehört nach
Ägypten und ist zeitlich um 120 nChr. anzusetzen. Wo von der Lokalisierung
von Wengst ausgegangen wird, ist der Tod Agrippas (zw. 92 und 96) terminus
ad quem, da nach Agrippa das Judentum nicht mehr seine Stellung im Staat
behielt.
So ergibt sich eine Entstehungszeit zw. 90 und 100 nChr. (Wengst:
zw. 80 und 90). Seit 92 nChr. wird die verschärfte Religionspolitik
Domitians auch die johann. Gemeinden getroffen und sie zum Kaiserkult
gezwungen haben (1.Joh.5,21?). Dem entspricht die Situation des Bekennens
und nicht Verleugnens (1,20).
4. Abfassungsanlass und Grundintention |
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Hier werden verschiedene Konflikte angenommen, aus denen heraus Joh.
zu verstehen ist:
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Bultmann: Kritische Uminterpretation des gnostischen Erlösungsmythos.
Kritik: Es ist absolut zweifelhaft, ob bereits zur Zeit des Joh. ein gnostisches
System voll ausgeprägt vorlag und ob Joh. ein solches gekannt hat.
Die Zshge. mit dem Judentum werden nicht berücksichtigt.
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J.Becker: Joh. ist für Insider und ist keine Missionsschrift. Das
Ziel des Evangelisten "ist es, bestimmte theologische Entwicklungen in
seinem Gemeindeverband neu auszulegen und auch zu korrigieren" (56). Es
ginge dabei also um innergemeindliche Orientierungsfindung.
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Kl.Wengst: Joh. ist aus der Auseinandersetzung der johann. Gemeinde
mit dem Judentum zu verstehen: "Agitation und Pression der jüdischen
Orthodoxie waren erfolgreich. Es kam zu einer Abfallbewegung in der johanneischen
Gemeinde. In dieser Situation schrieb der vierte Evangelist sein Werk.
Er wollte seine Leser und Hörer zum "Bleiben" veranlassen und ihnen
klarmachen, was sie an Jesus haben. Er wollte ihnen Gewißheit darüber
verschaffen, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes ist" (Wengst, 97).
Dabei stelle Joh. gerade nicht das Anstößige an Jesu Messianität
heraus (so Bultmann), um alle Sicherheit der Glaubenden zu zerstören,
denn es "ist festzustellen, dass die bloße Zugehörigkeit zur
Gemeinde in sehr reale Unsicherheit versetzte" (Wengst, 99). Ferner will
Joh. seine Gemeinde auch in der erfahrenen Anfechtung trösten. Sie
trifft derselbe Hass, den Jesus schon traf (15,18ff). Joh "parallelisiert
also deren Trostlosigkeit mit der Situation der geängsteten Jünger
vor und bei Jesu Tod" (Wengst, 114). Daraus lässt sich auch die Länge
der Abschiedsreden verstehen.
Literatur: J.Becker, ÖTK 4/1,
S.40-51,56; Kl. Wengst, Bedrängte Gemeinde
und verherrlichter Christus; H.Thyen, TRE-Art. Johannesevangelium;
L.Schenke, Das Johannesevangelium, S.106-132
Copyright: Matthias Kreplin, 2000