Die Entwicklung der Kirche bis zum Ende des ersten Jahrhunderts
und ihre Existenz im römischen Reich
| 1. Die äußere Entwicklung |
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Für die äußere Entwicklung zw. 60 und 100 nChr.
gibt es praktisch keine christlichen Quellen. Es fehlt für
diese Zeit jeglicher zusammenhängende Geschichtsbericht. Auch die
Schriften, die wohl in dieser Zeit entstanden sind, lassen sich nicht genau
datieren, noch lokalisieren. Wichtigstes Dokument (jedoch nicht-christlich):
Brief
des jüngeren Plinius an Kaiser Trajan (98-117) über Vorgehen
gegen Christen (um 112/113). Lediglich die weite Ausbreitung des Christentums
ist erkennbar: (Evangelien: Idumäa, Transjordanland, Tyrus, Sidon;
Act.15,39: Zypern; Tit.: Kreta; Dalmatien; Hebr: Italien; 1.Petr.1,1; Apk.:
Kleinasien; Plinius: Heidnischer Kult in Bithynien und Pontus um 100 bereits
stark zurückgedrängt). Die in der ersten Phase gegründeten
Gemeinden blühen (Antiochien - Ignatius; Ephesus; Korinth; Philippi)
und haben sich zu Zentren des Christentums mit beträchtlichem Einfluss
fortentwickelt.
| 2. Theologische Tendenzen |
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An theologische Tendenzen lassen sich benennen:
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Es bilden sich verschiedene Schulen heraus (Paulus, Johannes, u.a.)
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Stärkerer Anschluss an gnostische Vorstellungen (Hebr.; Joh.),
Popularphilosophie (Past.), jüdische Apokalyptik (Apk.), jüdi
sches Traditionsdenken (Jud.; Past.) und jüdisch paränetische
Tradition (Eph.; Past.; Jak.).
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Gegensatz von Juden- und Heidenchristen spielt keine Rolle mehr.
Kirche ist faktisch heidenchristlich bestimmt. Freiheit vom Gesetz gilt,
ebenso wie das AT an sich (Der vermeintliche Gegensatz wird verschiedentlich
gelöst: Mt.: Verheiung und Erfüllung; Hebr.: typolog. Deutung
des AT; 1.Clem.: AT als Buch ethischer Vorbilder). Ein Indiz dafür
ist, da fast für die gesamte spät-urchristliche Literatur die
paulinische Theologie vorauszusetzen ist, in der die Tatsache der Gesetzesfreiheit
nicht mehr diskutiert wird.
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Entwicklung der Eschatologie: Abklingen der Naherwartung (Ganz aufgegeben
nur in Past. und 2.Petr.). Dadurch wurde allerdings keine Krise ausgelöst
(Andeutungen in 2.Th. und 2.Petr), da Neukonzeptionen prägend wurden:
Kol./Eph. (weitgehende Ignorierung zukunftsgerichteter Eschatologie; Ausschaltung
des Zeitfaktors); Hebr. (Ausgleich durch Bild vom wandernden Gottesvolk);
Joh. (Ausschluss kosmologisch-apokalypti scher Elemente). Nach Kümmel
ist dort, wo die Naherwartung völlig aufgegeben ist, die Grenze des
Urchristentums überschritten
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Mit Dehnung der Zeit bis zum Weltende kam das neue Problem der nach
der Taufe begangenen Sünden (Hebr: Keine zweite Buße; Herm:
Möglichkeit einer einmaligen zweiten Buße; 1.Joh und 1.Clem
machen einen Unterschied zw. vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden).
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Die Kirche als eschatologische Gemeinde entwickelt sich weiter zur Heilsanstalt
mit festgelegter Moral, Sakramenten, festen Kultpersonen, festem Glaubensbekenntnis
etc. Dabei werden Vorstellungen der Umwelt zu Hilfe genommen (Jüdischer
Sukzessions gedanke - Past.; 1.Clem; naturalistisches Sakramentsdenken
Past.; Ignatius).
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Verstärkte Tendenz, in Abwehr von "Häresie" Grundlagen
des christlichen Glaubens herauszuarbeiten. Es gibt aber noch keine festen
Grundlagen (Apostel als feste Größen der Vergangenheit werden
zum Kriterium). Durch Sammlung und Aufarbeitung der Tradition sollen
Kriterien zur Unterscheidung gewonnen werden. Synoptische Evangelien als
Dokumente dieser Entwicklung (Jesus als Lehrer: Glaube wird bewusst an
Jesu Geschichte gebunden, damit ein Maßstab für christliches
Leben gegeben ist).
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Eine übergreifende Organisation war wohl nicht vorhanden; wohl
aber feste Ämter innerhalb der Gemeinde. Die erste Nennung einer dreistufigen
Hierarchie findet sich erst bei Ignatius (vgl. dazu "Entwicklung
der Ämter im Urchristentum")
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Fülle innergemeindlicher Traditionen und Praktiken:
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Schriftlesung m. Auslegung im Gottesdienst, Lehre (1.Tim.4,13)
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Gebete (Did.; 1.Clem).
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Abensmahlsliturgie (Did.9+10+14).
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Handauflegung als Geistverleihung (Act.8,17; 1.Tim.4,14).
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Fasten (Did.8).
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Feier des ersten Tages der Woche (1.Kor.16,2; Act.20,7).
Häufig wird diese Epoche als "Frühkatholizismus" bezeichnet.
Conzelmann empfiehlt diesen Begriff erst zu verwenden, wenn Traditionsgedanke
mit Vorstellung der Amtssukzession verknüpft ist (so erst in
1.Clem.). Bei Ignatius zeigt sich darüberhinaus eine Bindung der
Heilswirkung von Verkündigung und Sakrament an das Amt. Kümmel
sieht die Grenzen zwischen Urchristentum und Frühkatholizismus als
fließend an. Das Urchristentum ist "theologisch betrachtet, nicht
eine fest umrissene chronologische Periode, sondern eine durch kritische
Besinnung zu erkennende geschichtliche Norm".
Die Kirche im römischen Reich stellt sich Römern und
Griechen als eine der neuen Religionen aus dem Osten dar. Davon werden
im NT nur zwei erwähnt (Täufersekte: Joh.1,6; 3,25; Simon Magus:
Act.8). Relativ früh kam es in einzelnen Gebieten zu Christenverfolgungen.
Folgende sind bekannt:
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Act.19: Christentum als Geschäftsschädigung der Devotionalienhändler
in Ephesus. Hier ist noch kein Vorgehen der staatlichen Behörden die
Ursache, sondern es handelt sich um einen reinen Volkstumult.
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Häufig gehen Aktionen von Juden aus. Indem sie die Stellung des Kaisers
ins Spiel bringen, kommt ein politischer Aspekt ins Spiel (Act.17,7). Auf
solche Anzeigen hin können sich die Behörden nicht mehr passiv
abwartend verhalten, sondern müssen die Sache zumindest untersuchen.
Präzedenzfälle sind frühere römische Maßnahmen
gegen fremde Kulte, die als Aberglaube (superstitio) gelten.
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Die neronische Verfolgung ist auf die Hauptstadt begrenzt.
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Verfolgung unter Plinius dem Jüngeren in Bithynien. Die röm.
Herrschaft war dabei bestrebt, öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Plinius fragt an, ob das Christsein als solches (nomen ipsium) oder erst
die damit zusammenhängenden Verbrechen (flagiata nomini cohaerentia)
strafwürdig seien. Trajan ordnet an, Christen nur zu bestrafen, wenn
sie (nicht anonym) angezeigt werden. Sie konnten nur dann überführt
werden, wenn sie die Verehrung der staatlich verordneten Götter oder
des Kaiserkultes ablehnten. "Allerdings darf man die Bedeutung des Kaiserkultes
in der Frühzeit nicht überschätzen: Im täglichen Leben
spielt er zunächst kaum eine Rolle; und als unmittelbarer Grund für
die Verfolgung der Christen ist er nur in Apk. angedeutet" (Conzelm./Lindem.,
462).
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Apk.; 1.Petr.; 1.Clem setzt wohl eine Verfolgung unter Domitian voraus;
Ignatius kennt Verfolgungen unter Trajan.
"Man kann insgesamt sagen, da die Gemeinde ständig durch die Gefahr
der Verfolgung bedroht ist, aber die konkreten Aktionen bleiben zeitlich
und örtlich begrenzt" (Conzelm./Lindem. 462). Die Christen reagieren
auf Verfolgungen im Sinne ihres Bekenntnisses (Welt geht ihrem Ende entgegen
und ist der Ort, an dem die Wahrheit verfolgt wird => "Freude im Leiden").
So lebte gerade in Verfolgungssituationen die Naherwartung wieder
auf (Apk.). Ferner wurde die Idee des Martyriums als des von Gott
verordneten Leidens vertreten (vgl. Mt 10). Bewaffneter Widerstand war
den Christen durch ihren Glauben verwehrt (1.Petr fordert angesichts der
Verfolgung Gehorsam gegen die Obrigkeit; 1.Clem fordert in selber Lage
Gebet für Obrigkeit). Einzige Verteidigung ist Nachweis, dass Christen
unschuldig sind. Dass Christen versucht haben, die den Juden zugestandenen
Privilegien zu erhalten, scheint wohl nicht der Fall zu sein (vgl. Act).
Dies hätten die Römer wahrscheinlich nicht akzeptiert, da die
Christen sich aus ihrer Perspektive grundsätzlich von den Juden unterschieden.
Literatur: Conzelmann/Lindemann, AB,
S.456-463; W.G.Kümmel, Art. Urchristentum, RGG 3; Bd 6, 1187-1193
Copyright: Matthias Kreplin, 2000
